Dienstag, 27. Oktober 2009

E. L. Doctorow: Ragtime

Wer sich der Geschichte nähern möchte, kann das auf unterschiedliche Weise tun. Es müssen nicht immer methodisch-wissenschaftliche Darstellungen sein, die uns ein Bild der Vergangenheit vermitteln können; auch eine künstlerische Darstellung vermag, wenn auch nicht die historischen Tatsachen, so doch die Psychologie, Mentalität, Eigentümlichkeit und den Charakter einer Epoche zu beschreiben. Es ist hierbei das Privileg eines Künstlers, dass es ihm erlaubt ist, die Chronologie der Ereignisse zu durchbrechen, historische Tatsache zu verzerren oder tatsächliches Geschehen und Fiktionen miteinander zu vermischen. Was dem Leser auf diese Weise beschrieben werden kann, ist nicht das historisch Tatsächliche, sondern Aspekte des inneren Wesens einer Zeit; Aspekte, die deshalb aber nicht weniger tatsächlich sind.


Ein solcher historischer Roman ist auch Ragtime des US-amerikanischen Schriftstellers Edgar Lawrence Doctorow aus dem Jahre 1975. Das Thema des Buches ist der Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft um die Wende zum 20. Jahrhundert, dem Jahrzehnt vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges. In episodenhafter Darstellungsweise verknüpft Doctorow Fiktionen und erfundene Gestalten mit historischen Personen, die er künstlerisch – und damit historisch verzerrt – in Beziehung zueinander setzt. Der Leser erhält Einblicke in die gegensätzlichen Persönlichkeiten Henry Ford und John Pierpont Morgen, nimmt Teil an den Kämpfen der amerikanischen Arbeiterbewegung, an deren Spitze die Anarchistin Emma Goldmann stand, wird Zeuge des skandalösen Lebens des frühen Sex-Idols Evelyn Nesbit, erlebt das abenteuerliche Handwerk und Leben des Befreiungskünstlers Harry Houdini und begegnet u.a. dem Nordpolforscher Robert E. Peary oder Sigmund Freud, dessen Reise in die USA Doctorow prophetisch mit dem Gedanken enden lässt: „Amerika ist ein gigantischer Irrtum.“ Eingesponnen sind diese Gestalten in das Leben der erfundenen, anonymen Familie eines Fahnen und patriotischen Schmuck produzierenden Unternehmers, typischer Vertreter des amerikanischen Mittelstandes, d.h. WASPs (weiß, angelsächsisch und protestantisch), und des jüdischen Emigranten Tates mit seiner kleinen Tochter Mame, der als verarmter Arbeiter und Anhänger des Sozialismus sein Leben in den USA beginnt und dem am Ende mit dem Verkauf seiner Kunst der materielle und soziale Aufstieg und damit die Verwirklichung des amerikanischen Aufstiegstraumes vom Tellerwäscher zum Millionär gelingt.

Was durch die künstlerische Verknüpfung der verschiedenen tatsächlichen und erfundenen Geschichten, gegensätzlichen Persönlichkeiten und Lebenswelten unter Doctorows Feder entsteht, ist Ragtime. Es der musikalische Vorläufer des US-amerikanischen Jazz, der afroamerikanische Rhythmen und europäische Melodien und Spielweisen in sich vereint; eine Musik, die zerrissen, d.h. in der Takt und Melodie nicht synchron zueinander gespielt werden; eine Musik, die überwiegend von amerikanischen Schwarzen vertont und von der Mehrzahl der weißen Bevölkerung geliebt wurde. Bei der Lektüre des Buches stellt sich die Frage, ob der Eindruck von Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft, die im wörtlichen und musikalischen Sinne im Ragtime steckt, nur durch die verzerrte, künstlerische Sicht des Autors auf den Beginn des amerikanischen 20. Jahrhunderts entsteht oder ob damit das tatsächliche innere Wesen einer Epoche historisch beschrieben wird. Symbolisch stellt Doctorow in der Person des ruhigen und selbstbewussten Ragtimepianisten Coalhouse Walker eine philosophische Frage an einen Abschnitt der amerikanischen Geschichte: Ist ihre äußerliche Harmonie, die wie die Musik Gegensätzliches klangvoll vereint, eine tatsächliche Harmonie oder ist eine unversöhnliche und unvereinbare Zerrissenheit ihr wesentliches Element? Klingt in den afroamerikanischen Wurzeln und Ursprüngen des Ragtime nicht auch eine Welt hervor, die sich mit den Salons, der gehobenen, weißen Mittelschicht, in denen er gespielt wird, nicht vereinbaren lässt? Coalhouse Walter macht trotz seines ruhigen und ausgeglichenen Wesens die Erfahrung, „dass ein Mann nicht Gerechtigkeit finden kann in einer Gesellschaft, die behauptet gerecht zu sein.“, und er beschließt, sich auf individuelle und moralisch fragwürdige Weise, die Gerechtigkeit zu verschaffen, die die Gesellschaft ihm versagt. Doch wie weit kann und darf ein Mensch gehen, um Gerechtigkeit zu erhalten, und wann schlägt Gerechtigkeit in ihr Gegenteil um?

Auch mehr als 30 Jahre, nachdem Doctorow mit seinem Roman der Sprung in die amerikanischen Bestsellerlisten gelang, besitzt Ragtime trotz seines historischen Themas Aktualität. Es lohnt sich, den Gedanken und Fragen Doctorows zu folgen. Sein Buch zeigt nicht nur die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit einer vergangenen Epoche. Schon die bloße Existenz des Romans beweist interessierten und aufgeschlossenen Menschen, dass Geschichte und Gegenwart der USA sehr verschiedenen Gesichter besitzt, von denen eines Edgar Lawrence Doctorow ist.

von Roman Stelzig

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen