Dienstag, 27. Oktober 2009

Im Sinne der Nationalsprache: Vom Sprachpurismus in Frankreich

There’s no better way to fly, wirbt die Lufthansa. Nur nicht in Frankreich.Oder besser: Nur nicht ausschließlich in Frankreich, denn da heißt es im Untertitel: Il n’a pas plus belle façon de s’envoler*. Unter Philologen bezeichnet man solch ein Phänomen als getreue Hässliche, als wortwörtliche, aber ästhetisch anspruchslose Übersetzung.


Aber vielleicht soll dieser Satz überhaupt nicht als Slogan fungieren und damit gar keinen Anspruch auf Attraktivität besitzen, sondern lediglich den eigentlichen Claim, wie es in der Werbesprache heißt, paraphrasieren. Damit würde die französische Werbung das sichern, was bei deutscher oft nicht ganz vorhanden ist: Nämlich das vollständige Verständnis bei den (potenziellen) Konsumenten. Die Endmark AG in Köln, ein Unternehmen, das Markennamen entwickelt, hat in verschiedenen repräsentativen Umfragen mit jeweils über 10.000 germanophonen Probanten zwischen 14 und 49 Jahren herausgefunden, dass viele englischsprachige Werbeslogans kaum oder gar nicht verstanden werden. So wurde der Youtube-Spruch „Broadcast yourself“ auch schon mal als „Mache deinen Brotkasten selbst“ oder „Taste Tuned“ (Mixery) als „Die Taste ist getuned“ übersetzt. Um solche Missverständnisse auszuschließen wird in Frankreich jeder englischsprachige Werbeslogan, der keine französische Übersetzung mitliefert, mit einer Geldstrafe belegt. Bleibt nur die Frage im Raum, warum die Werbung dort nicht komplett auf den englischen Claim verzichtet. Wäre das etwa contra-global oder sollen auf diese Art und Weise die Franzosen einen kleinen Englischkurs absolvieren?


Ähnliche Vorschriften gibt es dort auch in anderen Bereichen. So müssen 40% der Lieder in Unterhaltungsmusikprogrammen auf Französisch sein. Auch das fordert, ebenso wie Übersetzung bei Slogans, das französische Sprachschutzgesetz, das 1994 unter dem damaligen Kulturminister Jacques Toubon (oder Jack Allgood, wie er von seinen Gegnern genannt wird) verabschiedet worden ist.


Die Académie Française bemüht sich seit ihrer Gründung 1635 um die Reinhaltung der französischen Sprache und heutzutage um die Abwehr der Anglizismen. Aber nicht in dem Sinn, wie es durch unsere Gesellschaft für deutsche Sprache oder den Verein der deutschen Sprache geschieht. Nein, die Akademie gibt nicht nur Empfehlungen wie hierzulande, sie normiert auch. In ihrem Dictionnaire de l’Académie française, DEM französischen Wörterbuch, finden kaum Fremdwörter Eingang. Aber immerhin gehören Knödel, Hamburger und Bretzel in den offiziellen Wortschatz. Zudem geben die 40 Mitglieder der Akademie, die sich selbst pathetisch des Immorteles („die Unsterblichen“) nennen, Empfehlungen für Wortneuschöpfungen zur Bezeichnung jener Gegenstände, für die noch kein französisches Wort existiert, sodass vor allem Anglizismen ungenutzt bleiben sollen. Im Falle von vacanelle, welches le week-end ablösen sollte, glückte der Versuch nicht. Aber es gibt zahlreiche Gegenbeispiele. Sucht man in einem Elektrofachgeschäft nach einem PC oder Hardware, wird man das Bezeichnete als ordinateur und matériel finden.


Wie weit der Sprachpurismus in Frankreich geht, konnte ich während meines Auslandssemesters dort nahezu tagtäglich erleben. Einigermaßen verwirrt war ich, als ich in einem Seminar zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters saß und in Verbindung mit dem Thronstreit (das vermutete ich zumindest) Namen wie Frédéric, Hénri und Philippe de Souabe hörte. Natürlich, ich verstand schon, es handelt sich hierbei um parallele Namenformen zu Friedrich, Heinrich und Philipp von Schwaben und ich war ja schließlich in Frankreich. Allerdings besuchte ich keine Veranstaltung der Geschichtswissenschaften, sondern der Germanistik. Und hier wurde teilweise auf Deutsch doziert. Warum also wurde den eifrigen Deutschlernenden die deutsche Geschichte nicht anhand deutscher Namen präsentiert?! Französisch aussprechen können sie sie ja dann immer noch und würden sie freilich auch.


Und dann ist da noch die Sache mit der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, einem Vertrag aus dem Jahre 1992, der bedrohte Sprachen schützen und fördern soll und dessen Ratifizierung mittlerweile Pflicht ist um in die EU aufgenommen zu werden. In Deutschland gelten neben dem Niederdeutschen und dem (Nieder-, Ober- )Sorbischen auch das Dänische, das (Nord- und Sater-) Friesische und Romanes als die Sprachen, deren Präsenz in den entsprechenden Gebieten in Schule, Medien und Behörden gefördert wird. In Frankreich gibt es zwar zahlreiche Sprachen, von denen einige stark vom Aussterben bedroht sind, wie das Okizitanische und das Franko-Provenzialische, doch das bietet noch lange keinen Grund die bereits unterzeichnete Charta zu ratifizieren. Jacques Chírac soll einmal formuliert haben, dass die Charta die „Einheit des französischen Volkes bedrohen“ würde, da sie „Sonderrechte an organisierte Sprachgemeinschaften verleihen könnte“. Gleichzeitig muss man aber zu Gute halten, dass es auf französischem Territorium auch Schulen gibt, an denen neben Französisch auch auf beispielsweise Bretonisch oder Katalanisch unterrichtet wird. Auch zweisprachige Straßenschilder, wie dies bei uns in der Lausitz üblich ist, wurden in Frankreich schon gesehen.


A better way, finde ich. Ein Land, das derart fanatisch ist, die eigene Sprache - nein, ich verbessere, die eine eigene Sprache, die Nationalsprache, vor äußeren Einflüssen zu schützen, sollte doch vielleicht verstehen, dass auch andere, verwandte Sprache ein kulturelles Gut darstellen und durchaus schützenswert sind.


* Es gibt keine bessere Art und Weise zu fliegen.

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Die Windmühlen




von Laurenz Andritz

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Wie ist das mit dem Schreiben?

„Wie ist das mit dem Schreiben?“, fragte sich mich bei flackerndem Teelicht in der verrauchten Kneipe. „Ja, weißt du, das ist wie das Brechen des Glückskekses. Ich packte die Hälften des Kekses zwischen Daumen und Zeigefinger beider, zur Faust geballten, Hände und breche das Ganze entzwei. Irgendetwas Sinnvolles kommt immer dabei heraus.“
Irritiert schaute sie mir auf die Hände, mit denen ich es ihr bedeutungsvoll vormachte. „Du weißt vorher gar nicht, was du schreiben willst?“ „Nein“, sagte ich, „die Kunst besteht in der Verbindung scheinbarer Widersprüche. Du schreibst den Krimi vom Anfang zum Ende. Man muss sich“, und dabei blickte ich in den Aschenbecher und nickte mit jedem gesprochenem Wort, „man muss sich vom Ende überraschen lassen.“ Etwas unbeholfen ob meiner Worte artikulierte sie Widerstand und sagte, sie habe bei ihrer Dissertation mit dem Schluss angefangen. Man müsse ja wissen, worauf zu, mit welchem Ziel man arbeite. „Verdammt, das ist der Punkt. Ich mache Kunst, du Wissenschaft. Die Kunst wird vom Betrachter gemacht, denn vom Künstler.“ „Aber beide machen sich doch Arbeit mit ihren Werken.“ „Ja, aber weiter. Beide, der Künstler und der Wissenschaftler sind zwar ständig damit beschäftigt, sich ihre Arbeit selber zu schaffen, eine riesige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, aber der Künstler sucht sich seine Arbeit aus, während der Wissenschaftler den Sachzwängen des Empirischen, Logischen und Ökonomischen folgt“, sagte ich. „Aber ich muss doch auch Widersprüche bei meiner wissenschaftlichen Arbeit auflösen.“ Da konnte ich nur mit dem Kopf schütteln: „Ich lege mir zum Beispiel drei Dinge auf den Schreibtisch und suche dann die Verbindung zwischen ihnen und schreibe darüber einen Text. Zuletzt waren das: Bier, Zigaretten und meine Tastatur.“ Das leuchtete ihr alles nicht ein und wir verabschiedeten uns mit einem festen Händedruck.

von Frank Ursin

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Eine Skizze im Speisewagen

der Zug hat genug Platz für alle,
nicht immer aber immerhin;
einige schlafen, einige lesen Zeitungen,
andere schlendern durch den Zug,
rauchen im Windfang, die die nervös sind - einsaugend
aber die meisten sind ruhig, entspannt;
es scheint, als ob sich der Sommer als Urlaub ankündigt
die Sonne macht Männer unter- und Frauen über der Gürtellinie heiß
abwechselnd riecht es nach Diesel und Honigklee
und nach zerrauftem Duft von getrockneter Brachse auf dem Nachbartisch
alles, was in diesem Zugabteil noch geblieben ist –
ein Schluck Bier im Glas
und heiße Luft aus dem Radioempfänger,
aus dem eine ruhige Frauenstimme Kriegsberichte erstattet

von Sergej Tenjatnikow

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Bastion

Vollmond.
auf ihm ist das Wasser gefärbt wie gehärteter Stahl.
es fließen Kutter, Boote, gelegentlich Schiffe und Tanker.
über die Bucht: Palmen laufen die Küste hinauf
und magere Sträucher gleiten zu den Wellen hinab.

unterhalb der Bastionsmauern liegt Havanna
wie eine Mulattin in zerrissenem Kleid
flachgelegt von einem schönen Spanier.
die Bastion schläft wie ein Veteran,
der Könige, Kriege, Dichter,
Unabhängigkeit, Diktatoren und Revolutionen überlebte.
sie erinnert sich an Piraten,
an ihre stählernen Schädel und Musketen.
sie würde Rum auf ihr Wohl trinken, auf ihr Gedenken,
sie hat aber keine Kehle.
der Leuchtturm gähnt durch seine Zahnlücken in die Nacht.
die Bastion schlummert.
die Stadt grummelt dumpf wie ein Hund am Bett des Herrchens.
und irgendeine gutherzige Waschfrau trocknet Wäsche
auf dem Exerzierplatz 
wie Segel an den Masten.
Punkt neun Uhr.
Kanonenschuß.
danach geben die spanischen Soldaten ihre Uniformen 
in der Garderobe ab.
der einäugige Mondschädel sieht die Bastion scheel an,
Havanna mit Fackellicht beleuchtend.
die Stadt schläft nicht bis zwei Uhr Mitternacht.
so ist der Brauch.
von Sergej Tenjatnikow

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Neue Leipziger Schule

Leipzig ist eine eher provinzielle Stadt
gemessen an der Lebensart ihrer Bewohner, nach Maßstäben 
Deutschlands.
hiesige Bürger setzen sich Speck für den Winter an
und gehen ziemlich früh zu Bett.
sie haben ihre bürgerlichen Träume,
und besuchen Kirchen zur Weihnachtszeit im Familienkreis.
in Leipzig leben auch Punker und Skins.
sie unterscheiden sich nicht so sehr
in den bürgerlichen Vorstellungen von einander.
manchmal führen sie untereinander Auseinandersetzungen
(angeblich Revolutionen) durch, aber öfter mit den Bullen.
die Bullen nehmen ihnen diese Orgien übel
und versprechen ihre Münder zu Schmand zu schlagen.
hier gibt es noch zwei oder drei Narren in Christo
solche wie Dichter, Maler und Straßenmusikanten
sie kriegen in diesem Leben nichts ab, außer Wodka,
verlieren die Hoffnung aber nicht, schenken bis zum Rand ein
und zitieren Goethe und Kant.

von Sergej Tenjatnikow

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Das kleine Wörterbuch Russisch-Deutsch

Punks leben, wo die Übrigen ihre Notdurft
in der Kommunikation verrichten (zu deutsch: soziale Kontakte pflegen).
Sie leben in der Nähe von Bahnhöfen, auf den Plätzen, auf den Straßen
und in der Nähe von Geschäften (zu deutsch: im öffentlichen Raum).

Punks trinken, prügeln und hören laute Musik
(zu deutsch: Verletzung der öffentlichen Ordnung),
die dem müden Philister auf der Straße
(zu deutsch: Steuerzahler) unverständlich erscheint,
und betteln ihn um Kleingeld und Zigaretten an
(zu deutsch: Belästigung eines Dritten).
Manchmal denke ich, dass sie nicht alt werden können.
Ihre Gesichter unbestimmten Alters (zu deutsch: Verwahrlosung),
bunte Irokesenschnitte und ewige Hunde mit Philosophenaugen
zwingen, für eine Sekunde zu bremsen
und überzuschwappen (zu deutsch: den Weltschmerz spüren).

Und als ich mich heute so bremste
am Bahnhof, auf dem Platz, auf der Straße und in der Nähe eines Ladens
und schon aufschreien, d.h. überschwappen wollte:
"Leute, hört! Hebt die Augen von der Straße!
Was wird passieren, wenn diese Außerirdischen aussterben,
wenn sie sich in stumme kahlköpfige Bäume verwandeln
und ihre Gefährten den dritten Planeten verlassen...?"
Zu mir kam ein Punk mit einem grünen,
vom Schnee niederdrückten Irokesenschnitt
und fragte mich nach einer Zigarette und Feuer.
Und während er versuchte, anzurauchen, dachte ich mir,
dass aus mir die Seele schon seit langem
wie das Gas aus diesem Feuerzeug
ausgegangen war.

von Sergej Tenjatnikow

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Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Sewastopoler Erzählungen

Über der Bucht von Sewastopol wird es Morgen. Die Sonne steigt über dem Hafen auf und beleuchtet mit orangenem Licht die vom Krieg noch verschonten fürstlichen Palais und die Mauern der Hafenfestung. Auf den Schützengräben der russischen und französischen Stellungen rund um den südlichen Stadtrand Sewastopols wehen weiße Fahnen. Der französische Angriff der vergangenen Nacht wurde von den Verteidigern der Stadt zurück geschlagen. Erschöpfung und Ermüdung auf beiden Seiten zwingen die verfeindeten Armeen zu einem vorübergehenden Waffenstillstand. Nur die Verwundeten in den Lazaretten, ihr Ächzen und Stöhnen, die Berge ihrer amputierten Arme und Beine, die Toten, die von den Arbeitern eilig weggetragen werden, die zerstörten Gewehre, Geschütze, Munition, Schutt und Geröll, die überall herum liegen, sind Zeugen der blutigen Ereignisse der vergangenen Nacht. Aus den Schützengräben der russischen und französischen Stellungen klettern die müden Soldaten hervor, um den Morgen über Sewastopol zu erleben. „Hören wir, worüber diese Menschen miteinander sprechen.


Ein kecker Infanterist in rosa Hemd und über die Schultern geworfenem Mantel tritt in Begleitung anderer Soldaten, die sich, die Hände auf dem Rücken, mit fröhlichen, neugierigen Blicken hinter ihm halten, auf einen Franzosen zu und bittet ihn um Feuer für seine Pfeife. Der Franzose facht seine Pfeife an, stochert in ihr herum und schüttet etwas Glut in die Pfeife des Russen.
'Tabak bong', sagt der Soldat im rosa Hemd, und die Zuschauer lächeln.
'Qui, bon tabac, tabac turk', sagt der Franzose.
'Et chez vous tabac russe? Bon?'
'Russ bong', sagt der Soldat im rosa Hemd und die Anwesenden schütteln sich vor Lachen. 'Frangs nicht bong, bongschur, mussjöh', sagt der Soldat im rosa Hemd, auf einmal sein ganzes französisches Vokabular hervorsprudelnd, und klopft dem Franzosen lachend auf den Bauch. Auch die Franzosen lachen.
'Hübsch sind sie nicht, diese ungehobelten Russen.', sagt ein Zuave aus der Menge der Franzosen.
'Worüber lachen sie denn?', fragt ein anderer Schwarzer mit italienischer Aussprache und kommt auf unseren Soldaten zu.
'Kaftan bong', sagt der kecke Soldat, während er sich die bestickten Rockschöße des Zuave ansieht. Und wieder gibt es Gelächter.
'Nicht über die Linien gehen, an eure Plätze, verdammt.', ruft ein französischer Korporal, und die Soldaten gehen mit sichtlichem Widerstreben auseinander.“
Es ist Mai in Sewastopol und es herrscht Krieg. Das Osmanische Reich, dessen Stärke und Macht in den vergangenen Jahrhunderten von den europäischen Großmächten gefürchtet wurde, liegt in Agonie. Seine Ausdehnung ist immer noch groß aber die Macht seiner Zentralgewalt ist eingeschränkt, die Provinzen und Kolonien suchen die Unabhängigkeit, ökonomisch und militärisch ist das riesige Land geschwächt. Innerhalb seiner Grenzen liegen die Schätze und Rohstoffe des Orients, die Häfen des Schwarzen Meeres und der Zugang nach Asien. Nach ihrem Besitz trachten die europäischen Staaten und stoßen dabei beständig in Konkurrenz aufeinander. Um seine Einfluss im Orient zu vertiefen und das Territorium des russischen Reiches auszudehnen, verlangt Zar Nikolaus I. im Februar 1853 vom osmanischen Sultan, er solle alle Untertanen, die dem orthodoxen Glauben angehören, russischer Schutzherrschaft unterstellen. Nachdem der Sultan sich weigert, dieser Forderung nachzukommen, überschreiten russische Truppen den Pruth und besetzen im Juli 1853 die Balkanregionen Moldau und Walachei. Von der russischen Expansion fühlen sich die europäischen Staaten, allen voran Frankreich und Großbritannien, bedroht und in ihren eigenen Expansionswünschen eingeschränkt. Auch sie trachten auf unterschiedliche Weise nach den Schätzen des Orient. Die militärische Schwäche des Osmanischen Reiches veranlasst sie zum Einschreiten in den russisch-türkischen Konflikt und im März 1854 erklären Frankreich und Großbritannien Russland den Krieg. Dieser Krieg dauert an bis 1856 und wird in der Geschichte nach dem Ort benannt, an welchem die meisten Kämpfe stattfinden: Der Krimkrieg 1853 – 1856.

Auf dem südwestlichen Zipfel der Halbinsel Krim befindet sich die Hafenstadt Sewastopol. Ihre nördlichen Hafenanlagen sind durch Festungsanlagen geschützt vor Angriffen zur See, die südliche Flanke weitgehend ungeschützt vor Angriffen vom Land. Die russische Flotte ist Schwach, ihre Segelschiffe den dampfbetriebenen Kriegsschiffen der britischen und französischen Flotte weit unterlegen. Im September 1854 gelingt der französisch-britisch-türkischen Armee die Landung auf der Krim. Die russischen Admirale W. A. Kornilow und P. S. Nachimow lassen einen Teil der russischen Schwarzmeerflotte in der sewastopoler Bucht versenken, um der feindlichen Flotte den Zugang zum Hafen zu versperren. Die Matrosen werden zur Verteidigung der Stadt hinzugezogen, Schützengräben und Befestigungsanlagen im Süden eilig ausgehoben und die Stadt auf die Belagerung vorbereitet. 349 Tage dauert die Belagerung Sewastopols. Die Eroberung der Stadt im September 1855 entscheidet den Krimkrieg zugunsten der antirussischen Koalition. Der Frieden von Paris am 30. März 1856 beendet den Krimkrieg. Russland erhält die von der Koalition eroberten Städte zurück, muss aber gleichzeitig seine türkischen Eroberungen zurückgeben. Moldau und die Walachei werden zum Protektorat der europäischen Großmächte unter formalem Verbleib im Osmanischen Reich. Der Einfluss Russlands und des Osmanischen Reiches auf das schwarze Meer wird erheblich eingeschränkt.

Der Krimkrieg ist ein Krieg, der im Scheidepunkt zwischen der alten Kriegsführung des europäischen Absolutismus und dem modernen Krieg des heraufbrechenden 20. Jahrhundert steht. Er ist noch ein Krieg, der von kurzfristigen Eroberungen und Stellungswechseln der Armeen bestimmt wird; er ist noch ein Kabinettskrieg, der hinter verschlossenen Türen in den Regierungskabinetten der europäischen Staaten beschlossen und geplant und der lokal begrenzt geführt wird. Aber in seiner Kriegsführung zeigen sich bereits die Auswirkungen der modernen Industrie. In den mächtigen Kanonen, in der Schnelligkeit der Gewehre, in der Belagerung Sewastopols, dem Leben der Soldaten in den Schützengräben und im massenhaften Verbrauch von Material und Menschenleben schimmert bereits ein Teil von dem hervor, das die Schrecken von der Marne und von Verdun hervor bringen wird.

Inmitten der Belegarung Sewastopols befindet sich im April 1855 auch der junge russische Schriftsteller Graf Lew Nikolajewitsch Tostoi. Bereits vor und während seiner freiwilligen Dienstzeit in der russischen Kaukasus- und später Donauarmee versucht Tolstoi sich im Schreiben, verarbeitet die Erlebnisse seiner Kindheit und im Kaukasus auf literarische Weise. In den Jahren 1855 und 1856 erscheinen in der literarischen Zeitschrift „Sowremnik“ die drei Erzählungen „Sewastopol im Dezember“, „Sewastopol im Mai“ und „Sewastopol im August 1855“, die zusammen die Sewastopoler Erzählungen ergeben. Bereits seine Zeitgenossen überrascht und beeindruckt Tolstoi durch seine ungeschminkte, realistische Schreibweise. Zwar drücken sich in den Sewastopoler Erzählungen die Liebe zur seiner russischen Heimat aus und die persönliche Hochachtung vor den Verteidigern Sewastopols, nicht so sehr vor dem adligen Offizierskorb, sondern viel mehr vor dem stillen Heldentum der einfachen Soldaten. Aber seine Schreibweise ist frei von Pathos, überzogenem Patriotismus und moralisierender Betrachtung; frei von Wertungen und Vorurteilen beschreibt Tolstoi in den Sewastopoler Erzählungen Ereignisse der Belagerung der Stadt; und er erzählt, wie sich Menschen im Krieg verhalten. Die erste Erzählung „Sewastopol im Dezember“ ist noch im Stil einer Reportage verfasst, in der Tolstoi den Leser auf wenigen Seiten durch die wichtigsten Orte der Stadt führt und von deren Eigentümlichkeiten und Besonderheiten berichtet. In den Erzählungen „Sewastopol im Mai“ und „Sewastopol im August 1855“ tritt aber bereits die Meisterschaft des Schriftstellers Tolstoi hervor, Menschen mit ihrem Erscheinungsbild, ihrem Auftreten, ihrer Sprache und ihrem Charakter sprachlich zu zeichnen. Tolstoi dringt in die feinsten Nuancen des Charakters seiner Protakonisten – Adlige, Offiziere, einfache Soldaten – ein, beschreibt ihr Handeln und offenbart dem Leser ihre stille Furcht vor dem Tod, ihre Liebe zur Heimat, ihre Träume vom Ruhm, ihre weltfremde Naivität, ihre ergriffene Anteilnahme oder ihre teilnahmslose Geduld. Man findet in den Sewastopoler Erzählungen keine Helden und der Schriftsteller stellt selbst die Frage: „Wo ist in meiner Erzählung das Böse dargestellt, das abschreckend wirken soll? Wo das Gute, das zur Nacheiferung anspornen könnte? Wer ist in ihr der Bösewicht, wer der Held? Alle sind gut, und alle sind schlecht. […] Der Held meiner Erzählungen, den ich mit allen Fibern meiner Seele liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit nachzubilden trachte und der immer schön war, schön ist und schön bleiben wird, das ist – die Wahrheit.“

Die Sewastopoler Erzählungen beschreiben anschaulich und nachvollziehbar Geschichte, sind ein frühes Zeugnis der literarischen Meisterschaft Lew Nikolajetisch Tolstois und regen, ohne zu belehren, zum nachdenken an über den Platz des einzelnen Menschen in der Geschichte und über Sinn und Unsinn von Kriegen.
von Roman Stelzig

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E. L. Doctorow: Ragtime

Wer sich der Geschichte nähern möchte, kann das auf unterschiedliche Weise tun. Es müssen nicht immer methodisch-wissenschaftliche Darstellungen sein, die uns ein Bild der Vergangenheit vermitteln können; auch eine künstlerische Darstellung vermag, wenn auch nicht die historischen Tatsachen, so doch die Psychologie, Mentalität, Eigentümlichkeit und den Charakter einer Epoche zu beschreiben. Es ist hierbei das Privileg eines Künstlers, dass es ihm erlaubt ist, die Chronologie der Ereignisse zu durchbrechen, historische Tatsache zu verzerren oder tatsächliches Geschehen und Fiktionen miteinander zu vermischen. Was dem Leser auf diese Weise beschrieben werden kann, ist nicht das historisch Tatsächliche, sondern Aspekte des inneren Wesens einer Zeit; Aspekte, die deshalb aber nicht weniger tatsächlich sind.


Ein solcher historischer Roman ist auch Ragtime des US-amerikanischen Schriftstellers Edgar Lawrence Doctorow aus dem Jahre 1975. Das Thema des Buches ist der Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft um die Wende zum 20. Jahrhundert, dem Jahrzehnt vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges. In episodenhafter Darstellungsweise verknüpft Doctorow Fiktionen und erfundene Gestalten mit historischen Personen, die er künstlerisch – und damit historisch verzerrt – in Beziehung zueinander setzt. Der Leser erhält Einblicke in die gegensätzlichen Persönlichkeiten Henry Ford und John Pierpont Morgen, nimmt Teil an den Kämpfen der amerikanischen Arbeiterbewegung, an deren Spitze die Anarchistin Emma Goldmann stand, wird Zeuge des skandalösen Lebens des frühen Sex-Idols Evelyn Nesbit, erlebt das abenteuerliche Handwerk und Leben des Befreiungskünstlers Harry Houdini und begegnet u.a. dem Nordpolforscher Robert E. Peary oder Sigmund Freud, dessen Reise in die USA Doctorow prophetisch mit dem Gedanken enden lässt: „Amerika ist ein gigantischer Irrtum.“ Eingesponnen sind diese Gestalten in das Leben der erfundenen, anonymen Familie eines Fahnen und patriotischen Schmuck produzierenden Unternehmers, typischer Vertreter des amerikanischen Mittelstandes, d.h. WASPs (weiß, angelsächsisch und protestantisch), und des jüdischen Emigranten Tates mit seiner kleinen Tochter Mame, der als verarmter Arbeiter und Anhänger des Sozialismus sein Leben in den USA beginnt und dem am Ende mit dem Verkauf seiner Kunst der materielle und soziale Aufstieg und damit die Verwirklichung des amerikanischen Aufstiegstraumes vom Tellerwäscher zum Millionär gelingt.

Was durch die künstlerische Verknüpfung der verschiedenen tatsächlichen und erfundenen Geschichten, gegensätzlichen Persönlichkeiten und Lebenswelten unter Doctorows Feder entsteht, ist Ragtime. Es der musikalische Vorläufer des US-amerikanischen Jazz, der afroamerikanische Rhythmen und europäische Melodien und Spielweisen in sich vereint; eine Musik, die zerrissen, d.h. in der Takt und Melodie nicht synchron zueinander gespielt werden; eine Musik, die überwiegend von amerikanischen Schwarzen vertont und von der Mehrzahl der weißen Bevölkerung geliebt wurde. Bei der Lektüre des Buches stellt sich die Frage, ob der Eindruck von Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft, die im wörtlichen und musikalischen Sinne im Ragtime steckt, nur durch die verzerrte, künstlerische Sicht des Autors auf den Beginn des amerikanischen 20. Jahrhunderts entsteht oder ob damit das tatsächliche innere Wesen einer Epoche historisch beschrieben wird. Symbolisch stellt Doctorow in der Person des ruhigen und selbstbewussten Ragtimepianisten Coalhouse Walker eine philosophische Frage an einen Abschnitt der amerikanischen Geschichte: Ist ihre äußerliche Harmonie, die wie die Musik Gegensätzliches klangvoll vereint, eine tatsächliche Harmonie oder ist eine unversöhnliche und unvereinbare Zerrissenheit ihr wesentliches Element? Klingt in den afroamerikanischen Wurzeln und Ursprüngen des Ragtime nicht auch eine Welt hervor, die sich mit den Salons, der gehobenen, weißen Mittelschicht, in denen er gespielt wird, nicht vereinbaren lässt? Coalhouse Walter macht trotz seines ruhigen und ausgeglichenen Wesens die Erfahrung, „dass ein Mann nicht Gerechtigkeit finden kann in einer Gesellschaft, die behauptet gerecht zu sein.“, und er beschließt, sich auf individuelle und moralisch fragwürdige Weise, die Gerechtigkeit zu verschaffen, die die Gesellschaft ihm versagt. Doch wie weit kann und darf ein Mensch gehen, um Gerechtigkeit zu erhalten, und wann schlägt Gerechtigkeit in ihr Gegenteil um?

Auch mehr als 30 Jahre, nachdem Doctorow mit seinem Roman der Sprung in die amerikanischen Bestsellerlisten gelang, besitzt Ragtime trotz seines historischen Themas Aktualität. Es lohnt sich, den Gedanken und Fragen Doctorows zu folgen. Sein Buch zeigt nicht nur die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit einer vergangenen Epoche. Schon die bloße Existenz des Romans beweist interessierten und aufgeschlossenen Menschen, dass Geschichte und Gegenwart der USA sehr verschiedenen Gesichter besitzt, von denen eines Edgar Lawrence Doctorow ist.

von Roman Stelzig


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Maria gegen Magdalena - Gedanken über eine unwichtige Frage

Auch wenn man sich der medialen Beschallung zu entziehen versucht, bisweilen kommt man nicht umhin, erfahren zu müssen, was ein Bürger eines kapitalistischen Landes zu wissen und was ihn zu interessieren hat. So informierte der Email-Verwalter GMX die Besucher seiner Webseite kürzlich darüber, dass bei Prominenten und Teenagern ein neuer Trend zur sexuellen Enthaltsamkeit vorherrsche und es Mode würde, als neues „Reinheitsprogramm“ ausschließlich ehelichen Sex zu praktizieren.


Nun, mit Reinheit hat eine solche Lebenseinstellung wenig zu tun, allenfalls mit langweiligem Puritanismus, mehr noch mit hinterwäldlerischen, antiquierten und verlogenen Moralvorstellungen. Die Monogamie, der sexuelle Verkehr mit einem Geschlechtspartner, ist fortschrittliche Errungenschaft der menschlichen Entwicklung zugleich und widersprüchlich aber auch Produkt der ersten Form der Unterdrückung von Menschen durch Menschen, der Unterdrückung der Frau durch den Mann, entstanden aus der Herausbildung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Sollten diese Produktionsmittel, z.B. Viehherden oder bewirtschaftetes Land, die durch den historischen Zufall oder als Resultat gesellschaftlicher Arbeitsteilung unter Verfügungsgewalt des Mannes standen, bei dessen Tod und bei Vererbung weiterhin im Eigentum seiner Familie verbleiben, musste die Erbfolge nach der männlichen Linie erfolgen und beobachtet werden. Nicht nur der Lateinkenner weiß aber, dass, solange den Menschen Gen- und Vaterschaftstest unbekannt waren, der Satz galt: „Pater semper invictus – Der Vater ist immer unbekannt.“ Und so musste sich denn die Frau ihres Rechtes auf freie Liebe entledigen und dem „Reinheitsprogramm“ der geschlechtlichen Unbeflecktheit unterwerfen, denn ihre Nachkommen durften nur die Nachkommen ihres einzigen Mannes sein. Dass dieses geschlechtliche „Reinheitsprogramm“ selbstverständlich einher ging mit der Zurückdrängung der Frau aus der politischen und öffentlichen Sphäre der Gesellschaft in die verklärte Romantik des Privaten, ist nur ein Teil, der die Doppelbödigkeit der hier angezeigten Moralvorstellungen beweist. Die neue zivilisierte Sittlichkeit schuf sich auch jene Ventile, die gestatteten, den moralisch verklärten Schleier ihrer Borniertheit beständig zu unterwandern. Mit der Monogamie entstand zugleich die süffisant „ältestes Gewerbe der Welt“ genannte Prostitution. Die Prostitution gestattete es nicht nur, weibliche Sexualität als Arbeitskraft profitbringend zu verwerten, sie schuf gleichzeitig jenen moralischen Zustand der Gesellschaft, der in jeder Biografie einer männlichen historischen Persönlichkeit den gelegentlichen Seitensprung nicht nur nachsichtig verzeiht, sondern als Zeichen besonderer Männlichkeit geradezu sucht und erwartet, während sie ihre Gretchen gleichzeitig für die Geburt jedes unehelichen Kindes erbarmungslos verurteilt. Die abgeschmackte Romantik des mittelalterlichen Minnegesangs sowie die weltfremde Idee der platonischen Liebe zwischen Mann und Frau sind letztlich in ihrem inneren Kern nichts anderes, als der leise Widerstand der Weiblichkeit gegen ihre gesellschaftliche Unterdrückung: Während ihr ehelicher Rittersmann tapfer schöne Prinzessinnen vor bösen Drachen befreit und anschließend freit, darf das keuche Burgfräulein sich doch wenigstens platonisch, d.h. im Geiste, von ihren ritterlichen Verehrern besingen lassen. Dass die puritanische Reinheitsmoral im Kapitalismus, der notwendig Armut erzeugt, gleichzeitig dazu geeignet ist, ein Bewusstsein zu schaffen, dass sexuelle Entsagung und nebenher jede Art körperlicher und seelischer Entsagung aus materieller Not heraus, phantastisch verklärt, zeigt zusätzlich, welcher Art die Moral ist, die dem heutigen Medienkonsument auf solche Weise nahe gelegt werden soll.

Es wäre allerdings falsch, aus solcherlei Betrachtung die gegenteilige Lebensweise für besonders revolutionär zu halten. Wer seinen Adorno gelesen hat, weiß: 


 Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht. Der Wechsel auf die Lust, den Handlung und Aufmachung ausstellen, wird endlos prolongiert: hämisch bedeutet das Versprechen, in dem die Schau eigentlich nur besteht, daß es zur Sache nicht kommt, daß der Gast an der Lektüre der Menükarte sein Genügen finden soll. […] Die permanente Versagung, die Zivilisation auferlegt, wird den Erfaßten unmißverständlich in jeder Schaustellung der Kulturindustrie nochmals zugefügt und demonstriert. Ihnen etwas bieten und sie darum bringen ist dasselbe. Das leistet die erotische Betriebsamkeit. Gerade weil er nie passieren darf, dreht sich alles um den Koitus.“ (Adorno/Horkheimer: Die Dialektik der Aufklärung) 


Die sexuelle Emanzipation der 70er Jahre brachte nicht die gesellschaftliche Emanzipation mit sich. Sie öffnete die Sexualität, indem sie sie vom scheinheiligen Rest des gesellschaftlichen Bann einer öffentlichen Moral befreite, einem gierigen Markt kapitalistischer Verwertung, in dem das Geschäft mit dem Sex heute lukrativer geworden ist als jede Form des Kulturschaffens. Es mag sich jeder Konsument von Pornografie, käuflicher Sexualität oder jeder Anhänger ungebundener, freier Liebe selbst fragen, ob kurzzeitige und immer währende Befriedigung sexueller Bedürfnisse gleich bedeutend ist mit der Erfüllung des umfassenden seelischen und körperlichen Bedürfnis nach Glück – mit Moral hat diese Frage reichlich wenig zu tun. Nicht nur in der Form abgeschmackter Moralvorstellungen, auch in ihrer entmoralisierten, kommerzialisierten Form kann Sexualität heute in entscheidendem Maße Instrument und Mittel gesellschaftlicher Unterdrückung sein. „Wer ficken will, muss freundlich sein“ und hat – das sollte ergänzt werden – sich ebenso gesellschaftlichen und das heißt gleichzeitig herrschaftlichen Normen anzupassen, um von seinem potentiellen Geschlechtspartner nicht nur als freundlich, sondern auch als gesellschaftlich reproduktionswürdig anerkannt zu werden. Und schließlich ist es bekannt, dass im Augenblick des Koitus die wenigsten Menschen eines Gedankens fähig sind, erst Recht keines gesellschaftspolitischen. 
 
Dem Fragenden und Suchenden nach einem geeigneten und zufriedenstellenden Umgang mit Sexualität kann hier tatsächlich nur im wörtlichen Sinn die Lessingsche Parabel ans Herz gelegt werden: „Es eifre jeder seiner von Vorurteilen freien Liebe nach“ und es schere sich niemand um vorgegebene gesellschaftliche Moral.


Viel wichtiger erscheint angesichts der Lebensweisen und Moralvorstellungen, die man uns solcherart schmackhaft zu machen gedenkt, die Frage, wie die Gesellschaft beschaffen ist, die ihre Konsumenten auf so billige Weise abspeist, und was man gegen sie unternehmen sollte.


von Roman Stelzig


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Wo die Titanic wohnt oder Vergiß nicht deinen Wasserhahn, wenn du gehst

Es war einmal ein Schiff, das hieß Titanic. Es war so groß oder klein, wie es war. Darauf lebten die titanischen rosaroten Seebären. Ihr Hafen war ein kleiner Malmstrom. Woanders konnte das Schiff nicht ankern, denn sein Rumpf war so tief, wie mein halber Zeigefinger lang, mindestens. Die titanischen rosaroten Seebären waren ein genügsames Volk. Doch irgendwann war das ewige Herumlungern im Malmstrom auch ihnen langweilig. Da stand der Größte von ihnen auf, das war der Kapitän. Er sagte: „Männer“, sagte er, „es ist an der Zeit, die Welt zu entdecken. So ein Malmstrom ist ja ganz hübsch, aber ich habe auch noch nie den Uniriesen gesehen.“


„ Jawoll“, riefen da die Männer.
Jeder nahm noch schnell ein Tictac mit auf den Weg, und los ging's. Die titanischen rosaroten Seebären mußten furchtbar rudern und kämpften sich aus dem Malmstrom hinaus. Denn so ein Malmstrom geht ja bekanntlich nach innen, und man muß schon ein unerschrockener Seebär sein, um da Erfolg zu haben.
Neben dem kleinen Malmstrom lag ein großer Malmstrom. An dem mußte man rechts vorbei und durch eine kleine grüne Brücke, um ins offene Meer zu gelangen. Diese kleine grüne Brücke stand mitten auf dem Wasser und verband Nirgendwo mit Da drüben. Deren fischige Bewohner waren sehr glücklich darüber und konnten sich gar nicht mehr erinnern, wie sie eigentlich von einem Ort zum anderen geschwommen waren, als es die Brücke noch nicht über ihnen gegeben hatte. Die titanischen rosaroten Seebären steuerten geradewegs auf die Brücke zu, als ein kleiner gemeiner Wirbelsturm, der eigentlich gar nicht so gemein war, sondern nur einsam, weil die anderen Wirbelstürme ihn nicht beachteten, und der sich nach Kuscheln sehnte, ihnen einen Streich spielte und sie versehentlich haarscharf an der Brücke vorbeiblies – geradewegs in den großen Malmstrom hinein. Mit dem war nun wirklich nicht gut Kirschenessen, der hatte noch nie etwas wieder hergegeben, daß sich in seinen Unterröcken verfangen hatte. Und er war ein bißchen groß. Unsere tapferen Seebären brauchten 12 Jahre für die erste Umrundung in der äußeren Strömung. Sie waren gerade vor Langeweile bei der 17. Strophe von 17 Mann auf des toten Mannes Kiste angelangt – die kennst du nicht? Weißt du, die geht wie die 13. So: Mhm mhm mhm mhmmhm mhmmhm mhm mhm... Ja genau die. – Da rief der kleine Jimmy aus dem Ausguck plötzlich: „UGSO steuerboooord!“ UGSO ist titanisch und bedeutet: Unbekanntes gelbes Sitzobjekt. Da schwamm nämlich der gelbe Liegestuhl vom Kapitän, das war der Größte von ihnen, gemächlich an ihnen vorbei.
„Ja also, zum Katzenkratzen und Mäusemelken“, schrie der Kapitän. Das war der Größte von ihnen. „Wie kommt der denn hier her? Den hab ich doch vor unserer Reise noch ordentlich zusammengeklappt an unsere Hauswand gelehnt. An genauso eine feine orangene wie die dort...“
Dem Größten von ihnen, das war der Kapitän, blieb das Wort im Halse stecken. Stumm standen die titanischen rosaroten Seebären und sahen ihrem kleinen orangenen Häuschen zu, wie es fröhlich mit den runden Fenstern winkend und zum Gruße mit der schiefen Tür klappernd, an ihnen vorüber zog. Nur das spitze Dach, das sich für seine Unspitzheit immer ein bißchen schämte, drehte sich verwirrt noch einmal nach ihnen um. Im Schornstein saß der kleine Wirbelsturm und schlief seinen Rausch aus. Er lächelte verträumt, denn er hatte soeben einen Malmstrom gehörig vermalmt. Der war zwar nicht größer als eine Sardinenbüchse, aber was machte das schon. Malmstrom ist Malmstrom.
Nachdem er nämlich die Seebären mal eben ganz gemein an der grünen Brücke vorbeigepustet hatte, ist er geradewegs in ihren kleinen Malmstrom geraten. Da hat er furchtbar Angst gehabt, weil er nicht gleich den Weg wieder hinaus fand. Und wie ein kleines trotziges Kind hat er mit dem Fuß ganz Fest auf den Boden gestampft und geschrien: „Ich will hier raus, sofort, sofort, sofort!“ Da zitterte der kleine Malmstrom, der es noch nie leiden konnte, wenn sich zweie in ihm stritten. Und das kleine orangene Häuschen geriet ins Wanken. Der kleine Wirbelsturm aber kam jetzt erst richtig in Fahrt. Er nahm ganz viel Anlauf – und das kleine Haus einfach mit. Erst im großen Malmstrom hielt er inne, da war er ganz schön aus der Puste. So setzte er das Häuschen ab und schlief augenblicklich im Schornstein ein. Das alles konnten die titanischen rosaroten Seebären natürlich nicht wissen. Dem Größten von ihnen, dem Kapitän, stand vor Staunen der Mund so weit offen, daß ihm beinahe Hugo der Walfisch hinein geschwommen wäre. Eigentlich hieß er Hügo, denn er war Franzose, und die sprechen alles ganz anders aus als wir, und noch eigentlicher war er gar kein Franzose sondern seine Großmutter väterlicherseits, aber Hügo fand, so eine Besonderheit würde einen schon recht besonders machen und gehöre angestrichen. Das bedeutet, er erzählte sehr gern und sehr oft davon und auch immer wieder. Überhaupt strich Hügo gern Dinge an. Gerade eben war er dabei, dem Grau an seiner linken Seitenflosse ein hübsches rosa Muster zu verpassen. Dabei hat er natürlich nicht aufgepaßt, wo er hinschwamm und als Jimmy „Achtung, Käptn!“ rief, sind beide, Hügo und der Größte der Seebären, der Kapitän, mächtg erschrocken. Hügo bekam gerade so die Kurve, aber sein Pinsel nicht. Und so bekam der Kapitän, der Größte der titanischen rosaroten Seebären, einen hübschen rosa Bart, nur daß man das leider nicht so sah, weil die rosaroten Seebären ja eh schon recht rosa waren.
Aber er wäre kein unerschrockener Seebär gewesen, wäre er davon erschrocken. Schnell schloss er den Mund wieder und befahl: „Alle Mann an die Ruder! Schnell! Unserem Haus hinterher. In der Speisekammer lagert noch ein Jahresvorrat Sardinen.“
Sardinen waren für die titanischen rosaroten Seebären so lecker wie Nudeln mit Tomatensoße für uns. Und sie kannten so allerlei Tricks für eine erfolgreiche Sardinenjagd. Wenn zum Beispiel ein titanischer rosaroter Seebär jemanden Sardinen essen sah, lächelte er ihn ganz freundlich an, zeigte dann urplötzlich erstaunt auf einen Punkt hinter ihm und sagte: „Guck mal! Ein großer, grüner Elefant mit lila Punkten!“ Natürlich drehte der sich dann um und guckte. Wer würde sich nach einem großen, grünen Elefanten mit lila Punkten nicht den Hals verdrehen? In diesem Moment stibitzte der Seebär dem ahnungslosen Sardinenbesitzer im Handumdrehen eben jene unter der Nase weg. Und wenn der sich dann wieder umdrehte und fragte: „Wo? Ich seh keinen.“, sagte der Seebär: „Du, der ist so schnell weggehuscht. Junge, sind die fix!“
Nun, die Sardinen waren den titanischen rosaroten Seebären gerade ausgegangen. Sie waren ja auch schon 12 Jahre unterwegs. Sie ruderten, als ginge es um ihr Leben und holten bald ihr orangenes Häuschen ein. Zum Glück hatten sie in der ersten Etage ein Fenster offen gelassen, so konnten sie hinein klettern und den Sardinenvorrat holen. Außerdem wurden gerettet: Jimmys Teddy Henry, die Hühnereierbecher, die Küchengardine, das Weihnachtsbaumlametta, ein bunter Roller, das Sockenmonster und die alte Apfelstiege, mit der man so gut Buden bauen konnte. Sie wollten gerade noch den grüne Wasserhahn hinaustragen, da gab Jimmy Alarm. So ein Malmstrom wird ja nach innen immer enger. Seit einiger Zeit schon drehte sich die Titanic immer schneller im Kreis und kam dem tosenden Abgrund immer näher. Der Lärm war mittlerweile so groß, daß man nur noch sein eigenes Wort hörte. Das kann man nämlich in seinem eigenen Kopf hören, da braucht man die Ohren nicht. Das kleine orangene Häuschen ächzte und stöhnte. Einiges wurde schief und anderes geriet in Unordnung. Das ein oder andere ging auch verloren und ein paar Dinge einfach kaputt. Nach Jimmys Signal schafften es gerade noch alle rechtzeitig wieder zurück an Bord der Titanic, bevor das Haus mitsamt des grünen Wasserhahns krachend und heulend im Strudel verschwand.
Das Heulen kam übrigens von unserem kleinen Bösewicht, dem Wirbelsturm. Als der nämlich nasse Füße bekam, war er mit einem Mal wieder hellwach, hüpfte aus dem Schornstein und flog davon. Er hatte keine Lust, herauszufinden, was sich wohl im Inneren des großen Malmstroms befand. Das wußte niemand, selbst unsere unerschrockenen titanischen rosaroten Seebären nicht. Denn der Malmstrom gab ja, wie gesagt, nichts von dem, das sich in seinen Unterröcken verfangen hatte, je wieder frei. Der Kapitän, das war der Größte der Seebären, war daher auch ein klein wenig aufgeregt, als sich die Titanic schließlich über den inneren Rand des Malmstroms schob, kurz über dem recht unspektakulär kieselsteinigen Abgrund schwebte und schließlich mit einem immer lauter werdenden Pfiff „pfhühhhhHHiiiIIIHHHe!“ hinabsauste, wie ein vom Hafer gestochener Fahrstuhl. Schnell hielt sich jeder Seebär an irgendetwas fest, um nicht umzufallen. Der Jimmy am Johnny, Archibald am Rumfaß, der Koch an seiner Mütze, der Steuerbär am Papagei, Marie an ihrem Glauben und der Größte von ihnen, das war der Käpitän, der schob sich fluchs den Daumen in den Mund. Aber pssst, das ist streng geheim, weil so etwas machen Kapitäne eigentlich nicht mehr. Es machte laut Plop!, und dann nichts mehr.
Ruhe.
So leise, daß man selbst sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Dem war das nämlich unheimlich so allein, und so verstummte es. Und rundherum Dunkelheit. Ich sollte besser sagen: Schwärze. Schwärzer als jede Nacht. Man sah die Hand vor Augen nicht. „Ruhsch blobn, Männesch!“, nuschelte der Größte der Titanen, das war der Kapitän.
„Wie bitte, Käptn?“, fragte Jimmy. Der Kapitän, der Größte von ihnen, nahm schnell den Daumen aus dem Mund.
„Äh, ruhig bleiben, Männer!“, wiederholte er. Und: „Johnny, wir brauchen Licht.“ „Jawoll, Käptn!“, rief der Johnny und holte fix die Glühwürmchen aus den Betten. Die schliefen nämlich. Es war ja hellichter Tag. Eigentlich. Die Glühwürmchen setzten ihre Regenmützen auf. Sicher ist sicher. Und dann schwärmten sie päarchenweise aus, das bedeutet immer zwei von ihnen hielten sich an der Hand. Sicher ist sicher. Nun konnten die titanischen rosaroten Seebären zumindest einander wieder sehen. Schnell wurde durchgezählt, ob auch niemand fehlte. Es gab einen kurzen Schreck, als das Rumfaß vermißt wurde. „Oohh!“ Dann stellte sich heraus, daß Archibald noch da war. Er hatte sich im allgemeinen Tohuwabohu an den Mast statt ans Rumfaß geklammert. „Aahh!“
Nun wurde die Umgebung beleuchtet. Die Glühwürmchen flogen so weit vom Schiff weg, wie sie sich getrauten. „Steuerbord?“, fragte der Größte von den Seebären, was der Kapitän war. „Schwarz, Käptn“, rief der Koch. „Backbord?“, fragte der Kapitän, der Größte von ihnen. „Äh, nach Ausschluß aller anderen, äh, Farben, äh, wobei es sich hier natürlich nicht um, äh, eine Farbe im eigentlichen Sinne handelt, äh, schwarz, Käptn.“ Das war der Steuerbär. Der sprach immer ein bißchen kompliziert, und manchmal verstand man ihn nicht so ganz, und dann kamen die titanischen rosaroten Seebären oft nicht ganz dort raus, wo sie hingesteuert hatten. „Auch schwarz“, ertönte ein Ruf von vorn vom Bug. „Und achtern?“, fragte der Größte, der Kapitän, nach hinten. „Schwarz“, krächzte der Papagei. Und dann: „Au“. Er hatte sich im Dunkeln die Zehe am Heck gestoßen. Auch unter dem Schiff war es, soweit die Glühwürmchen leuchten konnten, dunkel. Da knatterte es in der Takelage der Schiffes. Ein kleiner, fleißiger Wind blähte die Segel. Und zitternd setzte sich die Titanic in Bewegung.
„Mhm“, sprach der Kapitän, der von den Seebären der Größte war.
Und „mhm“, sprachen da die Männer.
So fuhren sie eine Ewigkeit dahin. Es passierte überhaupt gar nichts. Es war schwarz und wenn die Glühwürmchen schliefen, die sich manchmal ein bißchen abwechselten, war es noch ein wenig schwärzer. Die titanischen rosaroten Seebären sangen alle Lieder, die sie kannten. Und als sie damit fertig waren, begannen sie von vorn. Sie aßen einen Jahresvorrat Sardinen und dachten wehmütig an den grünen Wasserhahn aus ihrem orangenen Häuschen. Denn ohne den gab's keinen heiß geliebten Seetangtee. Für Tee braucht man Trinkwasser. Und für Trinkwasser...na? Richtig. Einen Wasserhahn. (Genaugenommen braucht man unter dem Wasserhahn noch eine Wasserleitung und einen Brunnen, aber das hier ist ein Märchen. Und da nehmen wir das nicht so genau.) Den Seebären begann es gerade so richtig langweilig zu werden, und sie muffelten sich auch schon ein bißchen voll, da spuckte die Schwärze sie plötzlich wieder aus.
Plop!
Das Schiff wackelte tüchtig, und alle purzelten durcheinander. Im nächsten Augenblick dümpelte es unter strahlend blauem Himmel gemütlich im Hafen in dem kleinen Malmstrom rum. Möwen kreischten über ihnen, die Wellen schwappten lustig an den Bug, und die Seepferdchen wieherten. Verdutzt blinzelten die tapferen Titanen in die ungewohnte Helligkeit. Die anfängliche Freude verstummte sofort wieder, als sie die unvorstellbare Unordnung überall sahen. Der kleine gemeine Wirbelsturm hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Keine Welle planschte mehr dort, wo sie hingehörte. Die Seebären hatten sie extra nach ihrer Größe und der Höhe ihrer Schaumkronen sortiert, damit nicht aus Versehen eine große über eine kleine rollte. Nun waren sie nicht nur völlig durcheinander geraten, manche machten sogar Handstand auf ihren lustigen Kronen. Das sah schon ein wenig merkwürdig aus. Und nicht nur das. Die Seepferdchen waren auf die Weide der Seekühe gewirbelt wurden, und nun muhten und wieherten alle durcheinander. Es ging zu wie im Hühnerstall. Die Seebären hielten sich die Ohren zu. Und natürlich fehlte ihr orangenes Häuschen und der Liegestuhl vom Kapitän, das war der Größte von ihnen.
„Mhm“, sprach dieser und „mhm“, sprachen auch die Männer.
„Ich weiß nicht, wie es euch geht, Männer“, brummelte er weiter, während er mit langen, nachdenklichen Schritten auf dem Deck auf und ab lief. „Es ist recht durcheinander hier.“ Auf. „Und gar nicht mehr hübsch aufgeräumt.“ Ab. „Selbst wenn ich noch einen gelben Liegestuhl hätte.“ Auf. „Es ist ja gar kein Platz, ihn hinzustellen.“ Ab. „Und unser orangenes Häuschen ist auch nicht mehr da.“ Auf. „Das ist recht ungemütlich.“ Ab. „Auch wissen wir noch immer nicht, was sich hinter der kleinen grünen Brücke verbirgt.“ Auf.
Da die titanischen rosaroten Seebären ihren Steuerbären so schlecht verstanden, waren sie nämlich quasi, na ja, sie waren eigentlich vor ihrem jetzigen Abenteuer noch nie wirklich richtig losgefahren. Der Größte unter ihnen, auch Kapitän genannt, blieb stehen. Die Männer schwiegen erwartungsvoll.
„Männer, wir fahren zur See!“
Lautes „Jawoll!“, „Juchee!“ und“Heißa!“ erscholl. Klar. Wer hätte schon Lust auf Wellen sortieren gehabt. Das erinnert verdächtig an Zimmer aufräumen.
Jeder nahm noch schnell ein Tictac mit auf den Weg und los ging er. Na ja, fast jeder. Die dicke Marie fand Unordnung unerträglich. Sie krempelte die Ärmel hoch, rümpfte mutig die Nase und sagte: „Ich bleibe hier. Irgendeiner muß hier schließlich nach dem Rechten sehen, während ihr unterwegs seid.“ Sie guckte dabei so kämpferisch und finster, daß das Rechte, nachdem sie sehen wollte, es mit der Angst zu tun bekam und sich unter der Ofenbank verkrochen hätte, wäre die nicht mit dem orangenen Häuschen davongepustet wurden.
Archibald, der die Marie dolle gern hatte, blieb auch.
Die anderen titanischen rosaroten Seebären mußten wieder furchtbar rudern und kämpfen aus dem Malmstrom hinaus. Ein zweites Mal steuerten sie geradewegs auf die kleine grüne Brücke zu und diesmal durch diese hindurch. Mit einem übermütigen Hopser und lautem Gesang fuhren die Titanen auf das offene Meer hinaus. Sie waren kaum eine Nase lang unterwegs da rief Jimmy: „Land in Sicht!“ Erwartungsvoll liefen alle zur Reling. Vor ihnen gleiste und glimmte eine Insel im Wasser. Die sah aus, als wäre ein Klümpchen von der Sonne runtergepurzelt, gerade da ins Meer hinein. Die titanischen rosaroten Seebären setzten ihre Sonnenbrillen auf. Jimmy zog sich die dicken Topflappenhandschuhe an, kletterte in den Ausguck und holte den gelben Sonnenball herunter. Dann untersuchten sie ihn genauer. Und wirklich, unten rechts war ein kleines Loch. „Ich muß doch sehr bitten“, sprach die Sonne würdevoll, als Johnny sie ein bißchen zu fest drückte. Schnell ließen die Seebären sie wieder frei. Die Sonne schüttelte empört ihren Strahlenkranz aus und zog geschwind ihre Bahn. Sie hatte recht viel Zeit verloren. Es war schon Nachmittag, und sie war noch sehr im Osten. Im Wasser schwamm derweil ein Stückchen von ihr, als wäre das ganz normal. Die Farbe war wohl nicht ganz wasserfest, oder vielleicht schmolz auch die Insel, denn sie war von einer trägen, gelben Pfütze umgeben. Die hinterließ einen hübschen Anstrich am Bug der Titanic. Auf der Insel standen sieben merkwürdige kleine Häuser. Die waren rund und hatten putzige Kappen auf dem Kopf wie Pilze.
Hallo!“, rief der Größte der titanischen rosaroten Seebären, denn seine Frau Mama hatte ihm beigebracht, daß man bei Fremden nicht einfach so ins Haus hineinmarschieren könne. Aber er bekam keine Antwort.
„Vielleicht, äh, sprechen sie fremdländisch, äh, also quasi von hinten.“, sagte der Steuerbär. „Ach so“, brummte der Kapitän, das war nämlich der Größte der Seebären. „Von hinten.“ Er überlegte kurz. Dann rief er:
!Ollah
Wieder antwortete ihm nur das Meeresrauschen. Das ist recht geschwätzig und mischt sich gern in die Gespräche anderer Leute. „Mhm“, sprach der Kapitän, er war der Größte unter den Titanen. Und „mhm“, sprachen auch die Männer.
Die Titanic fuhr ganz vorsichtig an die Insel heran, um nicht dran zu bumsen. Dann sprang Jimmy an Land und band das Schiff mit dem Seil an einem Fahrradständer vor einem der Häuser fest. Die anderen Seebären folgten ihm. Der Größte von ihnen, der Kapitän, klopfte an die Tür. Nichts. Er klinkte vorsichtig. Verschlossen. Alle Häuser waren verschlossen. Nirgendwo ein Lebenszeichen. „Wir könnten eine Tür aufbrechen“, schlug der Koch vor und kratzte sich mit dem Kochlöffel unter der Kochmütze.
„Moment!“ Der Kapitän, der größte Seebär, dachte an seine Frau Mama, die ihm Höflichkeit beigebracht hatte und zog die schmutzigen Stiefel aus. Dann brach er die Tür auf und ging hinein. Die Männer folgten ihm. Drinnen standen sieben Bettchen, davor ein Tisch und sieben Stühlchen. Der Tisch war für sieben Personen gedeckt: sieben Teller mit sieben Stückchen Pizza darauf, sieben mal Kinderbesteck und sieben pinkfarbene Häschentassen. Die Häschentassen waren mit derselben gelben Flüssigkeit gefüllt, welche die Insel umschwappte. Neugierig schnüffelte der Größte der titanischen rosaroten Seebären, der Kapitän, daran. Sie roch nach einem warmen Sommertag.
„Äh, wenn man so überlegt, äh, woraus die Sonne gemacht ist, äh, und daß es sich bei, äh, jener Flüssigkeit vielleicht um, äh, geschmolzene Sonne handeln könnte, äh, glaube ich nicht, daß es anzuraten wäre, äh, eine Kostprobe davon zu nehmen.“, meinte der Steuerbär. „Wie bitte, Steuerbär?“, fragte der große Kapitän, der kein Wort verstanden hatte.
„Ich glaube, er sagte: Nicht trinken, weil vielleicht giftig.“, erklärte Jimmy.
„Mhm“, sprach da der Kapitän, der Größte von ihnen, und „mhm“ sprachen auch die Männer. Wie sie noch überlegten, wo die kleinen Inselbewohner mit der Vorliebe für pinkfarbene Häschentassen wohl sein könnten, rumste es gewaltig. Die Seebären stürzten nach draußen und wagten ihren Augen kaum zu glauben. Neben der Titanic schwamm ein Stück orangenes Häuschen im Wasser und klapperte vergnügt, daß es sie gefunden hatte, mit seinem Fenster. Eine hilfsbereite Strömung hatte ihm den Weg gewiesen. Zum Glück war es das offene Fenster in der ersten Etage, so konnten die titanischen rosaroten Seebären hineinklettern. Wie groß war ihre Freude, als sie drinnen ihren grünen Wasserhahn fanden. Sogleich kochten sie eine Kanne frischen Seetangtee. Das war eine Wonne, fast wie zu hause.
„Männer“,sprach da der Größte der Seebären, das war der Kapitän, und lief im Häuschen auf und ab. „Es ist ein großes Glück, das wir unseren Wasserhahn wiederhaben.“ Auf. „Dieses Glück dürfen wir den tapferen Daheimgebliebenen nicht vorenthalten.“ Ab. „Auch Marie und Archibald werden sich über frischen Seetangtee freuen.“ Auf. „Und sie können sicher Hilfe bei der Seetangernte am Donnerstag gebrauchen.“ Ab. „Mit dem Stück unseres orangenen Häuschens können wir beginnen, ein neues zu bauen.“ Auf.
„Wir fahren also nach hause.“ Ab.
„Jawoll“, riefen die Männer und beschlossen, das Geheimnis der Sonneninselbewohner ein andermal aufzuklären. Niemand wollte es zugeben, aber sie hatten alle Heimweh. Sie banden das Stück des orangenen Hauses an die Titanic und setzten die Segel. Kurs: kleiner Malmstrom. An der kleinen grünen Brücke befestigten sie einen Wegweiser. Darauf stand: Sonneninsel dort. Dann fingen sie noch ein paar Sardinen und fuhren nach hause zu Archibald und Marie, die sich natürlich freuten. Sie hatten schon mächtig aufgeräumt. Die Wellen schnatterten nur noch ein ganz kleines bißchen durcheinander. Nach einem Bild, daß der Steuerbär im Internet gefunden hatte, bauten alle zusammen ein Haus. Als es fertig war, sah es aus wie der Uniriese. „Na also“, brummelte der Kapitän, was der Größte der Seebären war, zufrieden und nahm einen Schluck Seetangtee. „Jetzt müssen wir gar nicht mehr wegfahren, um ihn uns anzugucken.“
„Jawoll!“, riefen da die Männer und die Seepferdchen wieherten.


Thore und Mama, 2009

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