Das historische Verdienst eines Philosophen ist oft nicht das Ziel, das er mit seiner Philosophie verfolgt hat. Das gerade Gegenteil seines Zieles – bewiesen zu haben, was er widerlegen wollte – macht die Beutung des Zenon von Elea (490-430 v. u. Z.) aus. Zenon von Elea war ein Schüler des Parmenides (um 540-480 v. u. Z.), und sein Denken darauf gerichtet, dessen Philosophie zu beweisen: Das Sein existiert ohne Bewegung.
Dieser Satz ist zwar falsch, aber die Philosophie des Parmenides sagt viel Richtiges. Er war der erste, der eine Antwort gab auf die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Denken: „Dasselbe aber ist Denken und des Gedankens Gegenstand. Denn du kannst das Denken nicht ohne das Seiende antreffen, im dem es ausgesprochen ist.“
2.500 Jahre sind diese Worte alt, und man kann ihren Wert nicht hoch genug schätzen: Denken und Sein sind identisch, und Das Sein existiert vor dem Denken.
1888 wird Friedrich Engels die Geschichte des Streits um die Frage, die Parmenides beantwortete, zusammenfassen mit den Worten: „Die große Grundfrage aller […] Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein. […] Die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur, die höchste Frage der gesamten Philosophie […] [lautet:] Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur? […] Die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein hat aber noch eine andre Seite: Wie verhalten sich unsre Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unsern Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen? Diese Frage heißt in der philosophischen Sprache die Frage nach der Identität von Denken und Sein.“ Ihre Antwort liegt hier in der naiven Form vorsokratischer Philosophie einfach und klar vor uns.
Ein anderer Philosoph hatte die Frage in ähnlicher, aber anderer Form aufgeworfen, und dieser war ein großer philosophischer Widersacher des Parmenides:
Heraklit von Ephesus (um 540-480 v. u. Z.) Zentraler Begriff seiner Philosophie ist der Logos, das Weltgesetz. Den Logos, „der doch ewig ist, begreifen die Menschen nicht, weder bevor sie davon gehört noch sobald sie davon gehört haben.“ „So vieler Reden ich auch gehört habe – keiner ist dahin gekommen, dass er einsähe, dass das Weise etwas von allem andern Abgesondertes ist“. Doch „was der Bewährteste erkennt und bewahrt, ist kein Wissen.“ Das Weise ist das Erkennen des Logos, der – „von allem andern Abgesondert“ – nicht sinnlich wahrnehmbar ist.
Ein Beispiel aus der Wissenschaft: Der Bewährteste kennt nur die Anzahl der Planeten um die Sonne, der Weise weiß um ihre Gravitation. Aber die Gravitation kann man nicht sehen, anfassen oder riechen. Woher wissen wir dann, dass es die Gravitation gibt? Wie sind die abstrakten Gesetzte der Natur für den Menschen erkennbar, obwohl man sie nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmen kann? So stellte Heraklit die Frage nach Verhältnis und Identität von Sein und Denken.
Die Antworten, die spätere Autoren Heraklit in den Mund gelegt haben, klingen sehr abenteuerlich. Ob er tatsächlich der Meinung war, dass die Erkenntnis im Schlaf durch die Poren des Körpers in den Geist sickere, ist nicht entscheidend. Wichtig sind die Gedanken des Heraklit über das Wirken des Logos. Denn darin unterscheidet sich Heraklit grundlegend von Parmenides.
Das Wirken des Logos ist Sein, und Sein ist ewiges Werden und Vergehen aller Dinge. Der Ausdruck, alles fließt, charakterisiert den Seinsbegriff des Heraklits: „Alles Geschehen erfolge in der Form des Gegensatzes und alle Dinge seien in stetem Wandel begriffen … und die Welt entstehe aus dem Feuer und löse sich wieder in Feuer auf, in bestimmten Perioden, in stetigem Wechsel in alle Ewigkeit.“
Der Gründ für Werden und Vergehen – für das Wirken des Logos – ist der Gegensatz aller Dinge: „Alles geschehen erfolge infolge eines Gegensatzes.“ „Man muss wissen, dass der Kampf das Gemeinsame ist und das Recht der Streit, und dass alles Geschehen vermittels des Streites und der Notwendigkeit erfolgt.“ Der Logos führt die Gegensätze zusammen – wie das Männliche mit dem Weiblichen – lässt die Gegensätze ineinander übergehen – wie das Warme ins Kalte – und schafft die Identität von Gegensätzen, so wie Leben nicht ohne Tod, Friede nicht ohne den Krieg existiert.
Heraklit benannte als Urgrund aller Dinge das Feuer, das aber identisch ist mit dem Logos. Der Logos oder das Feuer ist nicht als Substanz zu verstehen ist, sondern als Prinzip, das den Dingen zugrunde liegt. Er überwand dadurch die ionische Naturphilosophie, die zwar auch von Werden und Vergehen der Dinge ausging, aber ein allen Gemeinsames, eine unveränderliche Substanz als Urgrund aller Dinge suchte. Es gelang Heraklit, die Bewegung und Gegensätzlichkeit des Seins in einer geschlossenen Philosophie zusammenzufassen.
Das aber war der Stein des Anstoßes für Parmenides. Dabei ist sein Argument scheinbar sehr einleuchtend: Denken bedeutete für Parmenides Ausschluss von Widersprüchen. Ein Gedanke ist falsch, wenn sich aus ihm gegensätzliche Aussagen ableiten lassen. Sein ist Nichtsein, Unendlichkeit ist Endlichkeit, Bewegung ist Ruhe, sind einander widersprechende Aussagen und können deshalb nicht wahr sein.
Und er wusste: Denken ist dasselbe wie des Gedankens Gegenstand. Die Eigenschaften des Denkens sind die Eigenschaften des Seins. Wahres Sein ist das, was wahr gedacht wird.
Heraklit behauptete aber: Das Sein aller Dinge ist ihr Werden und Vergehen. Sein ist, erwiderte Parmenides. Was ist, war immer, ist immer und wird immer sein. Was entsteht, war nicht, was vergeht, wird nicht sein. Was nicht war und nicht sein wird, ist auch nicht. Wenn, was entsteht und vergeht, nicht ist, und Heraklit recht hat, bedeutet das: Sein ist Nichtsein.
Für Parmenides war das keine wahre Aussage, und er entgegnete dem Heraklit: „Wohlan, ich will es dir sagen, welche Wege der Forschung allein denkbar sind. Du aber höre mein Wort und bewahr’ es wohl! Der eine zeigt, dass das Seiende ist und dass es unmöglich ist, dass es nicht ist. Das ist der Pfad der Überzeugung; folgt er doch der Wahrheit. Der andere aber behauptet, dass es nicht ist und dass es dieses Nichtsein notwendig geben müsse. Dieser Weg ist – das sage ich dir – völlig unerforschlich. Denn das Nichtseiende kannst du weder erkennen, denn das ist unmöglich, noch auszusprechen.“
Die Aussagen des Heraklit über das Sein konnten also nicht wahr sein. Das Gegenteil musste es sein: „[…] [D]ass es ganz und unbeweglich ist. […] Aber da das Seiende eine letzte Grenze hat [also nicht unendlich ist! – R. S.], so ist es nach allen Seiten hin vollendet, gleich der Masse einer wohlgerundeten Kugel, von der Mitte nach allen Seiten hin gleich. Denn es darf weder hier noch dort irgendwie größer oder kleiner sein. Denn es gibt ja nichts, was es hindern könnte, sich zusammenzuschließen, noch gibt es ein Seiendes, das hier mehr, dort weniger wäre als Seiendes. Denn es ist völlig unverletzlich. Denn der Punkt, wohin es von allen Seiten gleich weit ist, ist selber von den Grenzen gleich entfernt.“
Das wahre Sein ist unbeweglich, ist endlich, ist ohne Unvollkommenes, ich gleichmäßig, ist rund, ist Sein, ist nicht Nichtsein.
Das klingt auf den ersten Blick sehr paradox. Die Aussagen des Parmenides über das Sein sind tatsächlich nicht richtig. Aber es sind logische Schlüsse über den hochgradig abstrakten Begriff des Seins eines Menschen, der vor 2.500 Jahren gelebt hat, als noch die Götter den Olymp beherrschten! Dass dies gedacht wurde, obwohl es dem Offenkundigen widerspricht, ist an jenem Punkt ein großer Schritt in der Geschichte des menschlichen Denkens gewesen.
Für Zenon lautete nun die Aufgabe: Das muss bewiesen werden. Und der Schüler schmiedete seinem Meister ein scharfes Schwert. Das Instrument seiner Beweisführung war die Aporie, der ausgeschlossne Widerspruch. Bei dieser Methode nimmt der Argumentierende den Standpunkt seines Kontrahenten ein und leitet daraus logische Schlussfolgerunge ab, die sich widersprechen und nicht gleichzeitig richtig sein können. Platon berichtet über die Absicht und Methode des Zenon: „Wissen wir nicht, dass [Zenon] so kunstvoll disputierte, dass seinen Zuhörern ein und dasselbe Ding gleich und ungleich, als Eins und als Vieles, als bewegt und unbewegt erschien?“ „In Wahrheit will [Zenons] Schrift der Lehre des Parmenides zu Hilfe kommen, gegen diejenigen nämlich, die es unternehmen, ihn zu verhöhnen, indem sie ausführen, dass, wenn es nur ein einziges Seiendes gäbe, sich aus diesem Satz viele lächerliche Konsequenzen ergäben, die ihm selber widerstreiten. [Seine] Schrift kämpft also gegen diejenigen, die die Vielheit der Dinge behaupten, und zahlt ihnen mit gleicher Münze heim […]. [Seine] Absicht ist nämlich, das offenbar zu machen, dass die Voraussetzung [seiner] Gegner zu noch lächerlichen Konsequenzen führt als die Lehre von einem Seienden, wenn einer der Sache auf den Grund geht.“
Überliefert sind uns die Aporien des Zenon über die Teilbarkeit der Dinge, den Raum und die Bewegung.
Jeder Körper nimmt einen Raum ein. Wenn jeder Körper unendlich teilbar ist, müssen auch alle Teile des Körpers für sich einen Raum einnehmen. Eine unendliche Anzahl von Teilen, die einen Raum einnehmen, ergibt aber einen Körper von unendlicher Ausdehnung. Wenn die unendlichen Teile des Körpers aber keinen Raum einnehmen, besitzt auch der Körper keine Ausdehnung, weil die Summe von unendlichen Teilen, deren Ausdehnung Null beträgt, ebenfalls Null ist. Die Annahme von der Teilbarkeit der Dinge führt also zu den gegensätzlichen Schlussfolgerungen, dass jeder Körper zugleich unendlich klein und unendlich groß sei. Für Zenon ist die Aussage deshalb unwahr, und die Teilbarkeit keine Eigenschaft des Seins
Gegen die Existenz des Raumes wendet sich Zenon, indem er fragt: „Wenn der Raum etwas ist, worin wird er sein?“ „Wenn alles Seiende im Raum ist, so ist klar, dass es auch einen Raum des Raumes geben wird, und so fort bis ins Unendliche.“ Das hieße, dass der Raum sowohl endlich als auch unendlich ist. Und weil die Annahme des Raumes zu unwahren Aussagen führt, kann der Raum in Wahrheit nicht existieren.
Die Aporien Zenons über die Unmöglichkeit der Bewegung sind über den Namen ihres Entdeckers als kuriose Gedankenspiele bekannt geworden. Zu verdanken haben wir das Aristoteles. Er berichtet: „Es gibt vier Beweisgänge des Zenon betreffs der Bewegung […]: das erste dafür, dass eine Bewegung nicht stattfindet, ist das Argument, dass das Bewegte früher zur Hälfte des Weges gelangen muss als bis zu dessen Ende […].“ Weil das Bewegte zuerst die Hälfte der Hälfte eines Weges erreichen muss und jeder Abschnitt des Weges unendlich halbierbar ist, kann das Bewegte sein Ziel nicht nur niemals erreichen, sondern seinen Ausgangspunkt auch niemals verlassen.
„Der zweite Beweis ist der so genannte ‚Achilles’. Er gipfelt darin, dass das langsamste Wesen [die Schildkröte] in seinem Lauf niemals von dem schnellsten Achilles eingeholt wird. Denn der Verfolger muss immer erst zu dem Punkt gelangen, von dem das fliehende Wesen schon aufgebrochen ist, so dass das langsamere immer einen gewissen Vorsprung haben muss.“
„Der dritte Beweis ist […], dass der fliegende Pfeil ruht.“ Zu jedem Zeitpunkt seines Fluges nimmt der Pfeil einen Raum ein, der seiner Länge und Stärke entspricht. Die Bewegung des Pfeils ist die Summe seiner Raumeinnahmen. Bewegung bedeutet aber, sich nicht in einem Raum zu befinden. Oder: Einen Raum einnehmen, heißt, sich nicht zu bewegen. Die Bewegung des ist also die Summe seiner Ruhezustände. Ruhe plus Ruhe ergibt aber niemals Bewegung.
„Der vierte Beweis gründet sich auf Körpergruppen, die sich im Stadion in entgegengesetzter Richtung, als gleiche an gleichen, mit gleicher Schnelligkeit aneinander vorbeibewegen, die eine Gruppe vom Ende, die andere von der Mitte des Stadions aus, wobei, wie er meint, sich ergibt, dass die halbe Zeit gleich der doppelten sei!“ In einem Stadion befindet sich eine Reihe von stehenden Läufern (A1-4). Von beiden Seiten läuft jeweils eine zweite (B1-4) und dritte Reihe von Läufern (C1-4) in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit an den stehenden Läufern vorbei. Die Reihe B1-4 läuft dann in derselben Zeit vorbei an der ganzen Reihe C1-4 und der halben Reihe A1-4. Unter diesem Gesichtspunkt wäre: 1 = 0,5 oder 4 = 2.
Auf diese Weise leitete Zenon aus der Annahme, dass Bewegung existiert, vier unwahre Aussagen hab. Damit schien der Beweis erbracht, dass die Annahme unwahr ist und das wahre Sein nicht in Bewegung sein kann.
Tatsächlich konnte Zenon mit den Ergebnissen seiner Aporien zufrieden sein. Denn es ist ihm gelungen, nachzuweisen, dass der Seinsbegriff des Parmenides die einzige Schlussfolgerung des logischen Denkens ist. Allerdings nur unter einer Voraussetzung: Zwei Aussagen sind unwahr, wenn sie sich einander widersprechen. Damit hat Zenon die antike Philosophie nicht nur entscheidend beeinflusst. Er hatte die ihm folgenden Philosophen vor die Herausforderung gestellt, das Offenkundige mit dem Logischen zu vereinen.
Die Atomisten lehrten, dass die Welt aus kleinsten Teilen besteht, die sich auf unterschiedliche Weise abstoßen und vereinen und dadurch die Vielfalt der einzelnen Dinge hervorbringen. Sie übernahmen damit einen Teil der Seinsvorstellungen des Parmenides, nämlich, dass das Sein nicht entsteht und vergeht. Neue Fragestellungen und Erkenntnisse konnten dadurch gewonnen werden. Aber das Problem der Zenonschen Aporien war auch dadurch nicht gelöst. Viele Denker beriefen sich auf Zenon. Viele Denker wollten ihn widerlegen. Aber für Jahrtausende hat keiner die tatsächliche Bedeutung seiner Philosophie richtig verstanden.
Nicht einmal Zenon selbst. Doch auf dem damaligen Stand des Denkens war das nicht möglich. Die vorsokratische Philosophie war begriffliches Denken. Jeder Begriff bezeichnet Dinge des Seins, indem er seinen Inhalt definiert und damit von anderen Begriffen abgrenzt. Im begrifflichen Denken sind z. B. Ruhe und Bewegung Bezeichnungen für zwei gegensätzliche, einander widersprechende Zustände. Das ist nicht falsch, sondern notwendig, um die Welt überhaupt begrifflich zu erklären. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Tatsächlich treten die Begriffe in der Wirklichkeit nicht getrennt voneinander auf. Ruhe existiert z. B. nur in Abhängigkeit zu einer Bewegung. Und die Bewegung eines Körpers lässt sich, wie Zenon richtig bemerkte, nur beschreiben als die Aneinanderreihung (unendlicher) Ruhezustände. Beide Begriffe bezeichnen zwar etwas Gegensätzliches, ihre Inhalte treten aber in der Wirklichkeit nur als Einheit auf, die sich aufeinander beziehen.
In der Wirklichkeit sind die Dinge und sind die Dinge nicht. Sein ist Nichtsein. Das ist die konzentrierte Formulierung dieser Einheit der Gegensätze. Das Sein ist das, was allen Dingen gemeinsam ist und sich durch nichts von anderen Dingen unterscheidet. Es ist nicht definiert, durch nichts konkret bestimmt. Was aber durch nichts konkret bestimmt ist und keine Definition besitzt, ist nichts. Dann ist Sein Nichtsein. Wenn das Nichts aber etwas ist, dann ist es. Und dann ist Nichtsein Sein.
Das begriffliche Denken definiert die Begriffe zwar, indem es sie voneinander abgrenzt, kann sie aber in der Wirklichkeit nicht mehr als Einheit fassen. Ironie oder Dialektik des Denkens: Zenons Aporien richten sich letzten Endes gegen ihre eigene Voraussetzung, dass zwei widersprüchliche Aussagen nicht gleichzeitig wahr sein können. Denn erst von diesem Standpunkt aus ergeben sich zwar logische, aber scheinbar widersinnige Schlussfolgerungen.
Die große Herausforderung des Zenon an die Philosophie lautete: Wie kann das Denken die Dinge des Seins begrifflich voneinander trennen und gleichzeitig ihre Gegensätze als Einheit denken; wie kann es die Dinge mit feststehenden Begriffen definieren und gleichzeitig in ihrer Veränderung und in ihrer Bewegung begreifen?
Die vorsokratische Philosophie war bestimmt von naiven und unvollkommenen Formen des Materialismus und der Dialektik. Die Bereiche des Denkens, die Wissenschaften hatten sich noch nicht voneinander getrennt. Die Gelehrten der Antike waren Naturwissenschaftler, Erfinder, Politiker und Philosophen in einer Person. In den philosophischen Fragen nach dem allgemeinen Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt kamen die antiken Philosophen nicht auf den Gedanken, von anderen Vorraussetzungen auszugehen als in ihrer Betrachtung der Natur. Der Gedanke des Parmenides, dass Denken dasselbe wie des Gedankens Gegenstand sei, ist zwar genial, aber der unbewusste Reflex auf seinen Standpunkt bei der Erforschung der Natur. Seine wahre Bedeutung konnte Parmenides noch nicht begreifen. Denn er wusste nicht, dass die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein auch auf andere, gänzlich entgegengesetzte Weise beantwortet werden könnte. Um das zu wissen, hätte er in der Lage sein müssen, die Begriffe von den Dingen loszulösen, das Denken als Substanz dem Sein entgegen zu stellen und als Ursprung des Seins aufzufassen.
Die Vorsokratiker hatten nämlich noch nicht das Maß an Abstraktionsfähigkeit erreicht, um in ihrem philosophischen Denken nicht von den Erscheinungen der Natur auszugehen. Ihre geringe Abstraktionsfähigkeit hinderte sie daran, in ihren Vorstellungen über das Sein über das rein begriffliche Denken hinauszugehen. Die ionischen Naturphilosophen erkannten, dass die Dinge um sie herum in Bewegung sind, wie Blitze am Himmel vergehen und entstehen. Und auch sie trennten die Bewegung der Dinge und ihre Vielheit von der Ruhe und von der Einheit des Seins. Ganz natürlich begannen sie das Philosophieren mit der Suche nach einem unveränderlichen, ruhigen Urgrund aller Dinge.
Um einen Abstraktionsgrad zu erreichen, der es ermöglicht, die Einheit der Widersprüche gedanklich zu fassen, musste der sinnlich-konkrete Ursprung der Philosophie überwunden werden. Zenon hatte die Widersprüchlichkeit der Begriffe quantitativ bis an den Punkt entwickelte, an dem zur Lösung der Probleme nur noch blieb: Der Sprung des Denkens in eine höhere Qualität der Abstraktion.
In der antiken Philosophie bedeutete dieser Schritt, dass die Begriffe von den Dingen, die sie bezeichnen, löst wurden. Die Idee als Substanz wurde geboren und das Denken endgültig vom Sein getrennt. In diesem Sinne war die Ideenlehre des Platon, des Begründers des objektiven Idealismus, eine Konsequenz der Zenonschen Aporien.
Im diesem „Reich der Ideen“, im philosophischen Idealismus, entwickelte sich über Jahrhunderte das begriffliche Denken zum dialektischen Denken. Vollendet wurde dieser Prozess von Georg Friedrich Wilhelm Hegel, und von Karl Marx wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Erst dadurch löste sich die scheinbare Widersinnigkeit der Aporien des Zenon auf in die tatsächliche Einsicht in die dialektische Einheit der Widersprüche.
Und in der langen Geschichte des dialektischen Denkens gebührt Zenon von Elea die Ehre, als Erster den Gegensatz von begrifflichem und dialektischem Denken offenbart zu haben.
Dieser Satz ist zwar falsch, aber die Philosophie des Parmenides sagt viel Richtiges. Er war der erste, der eine Antwort gab auf die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Denken: „Dasselbe aber ist Denken und des Gedankens Gegenstand. Denn du kannst das Denken nicht ohne das Seiende antreffen, im dem es ausgesprochen ist.“
2.500 Jahre sind diese Worte alt, und man kann ihren Wert nicht hoch genug schätzen: Denken und Sein sind identisch, und Das Sein existiert vor dem Denken.
1888 wird Friedrich Engels die Geschichte des Streits um die Frage, die Parmenides beantwortete, zusammenfassen mit den Worten: „Die große Grundfrage aller […] Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein. […] Die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur, die höchste Frage der gesamten Philosophie […] [lautet:] Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur? […] Die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein hat aber noch eine andre Seite: Wie verhalten sich unsre Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unsern Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen? Diese Frage heißt in der philosophischen Sprache die Frage nach der Identität von Denken und Sein.“ Ihre Antwort liegt hier in der naiven Form vorsokratischer Philosophie einfach und klar vor uns.
Ein anderer Philosoph hatte die Frage in ähnlicher, aber anderer Form aufgeworfen, und dieser war ein großer philosophischer Widersacher des Parmenides:
Heraklit von Ephesus (um 540-480 v. u. Z.) Zentraler Begriff seiner Philosophie ist der Logos, das Weltgesetz. Den Logos, „der doch ewig ist, begreifen die Menschen nicht, weder bevor sie davon gehört noch sobald sie davon gehört haben.“ „So vieler Reden ich auch gehört habe – keiner ist dahin gekommen, dass er einsähe, dass das Weise etwas von allem andern Abgesondertes ist“. Doch „was der Bewährteste erkennt und bewahrt, ist kein Wissen.“ Das Weise ist das Erkennen des Logos, der – „von allem andern Abgesondert“ – nicht sinnlich wahrnehmbar ist.
Ein Beispiel aus der Wissenschaft: Der Bewährteste kennt nur die Anzahl der Planeten um die Sonne, der Weise weiß um ihre Gravitation. Aber die Gravitation kann man nicht sehen, anfassen oder riechen. Woher wissen wir dann, dass es die Gravitation gibt? Wie sind die abstrakten Gesetzte der Natur für den Menschen erkennbar, obwohl man sie nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmen kann? So stellte Heraklit die Frage nach Verhältnis und Identität von Sein und Denken.
Die Antworten, die spätere Autoren Heraklit in den Mund gelegt haben, klingen sehr abenteuerlich. Ob er tatsächlich der Meinung war, dass die Erkenntnis im Schlaf durch die Poren des Körpers in den Geist sickere, ist nicht entscheidend. Wichtig sind die Gedanken des Heraklit über das Wirken des Logos. Denn darin unterscheidet sich Heraklit grundlegend von Parmenides.
Das Wirken des Logos ist Sein, und Sein ist ewiges Werden und Vergehen aller Dinge. Der Ausdruck, alles fließt, charakterisiert den Seinsbegriff des Heraklits: „Alles Geschehen erfolge in der Form des Gegensatzes und alle Dinge seien in stetem Wandel begriffen … und die Welt entstehe aus dem Feuer und löse sich wieder in Feuer auf, in bestimmten Perioden, in stetigem Wechsel in alle Ewigkeit.“
Der Gründ für Werden und Vergehen – für das Wirken des Logos – ist der Gegensatz aller Dinge: „Alles geschehen erfolge infolge eines Gegensatzes.“ „Man muss wissen, dass der Kampf das Gemeinsame ist und das Recht der Streit, und dass alles Geschehen vermittels des Streites und der Notwendigkeit erfolgt.“ Der Logos führt die Gegensätze zusammen – wie das Männliche mit dem Weiblichen – lässt die Gegensätze ineinander übergehen – wie das Warme ins Kalte – und schafft die Identität von Gegensätzen, so wie Leben nicht ohne Tod, Friede nicht ohne den Krieg existiert.
Heraklit benannte als Urgrund aller Dinge das Feuer, das aber identisch ist mit dem Logos. Der Logos oder das Feuer ist nicht als Substanz zu verstehen ist, sondern als Prinzip, das den Dingen zugrunde liegt. Er überwand dadurch die ionische Naturphilosophie, die zwar auch von Werden und Vergehen der Dinge ausging, aber ein allen Gemeinsames, eine unveränderliche Substanz als Urgrund aller Dinge suchte. Es gelang Heraklit, die Bewegung und Gegensätzlichkeit des Seins in einer geschlossenen Philosophie zusammenzufassen.
Das aber war der Stein des Anstoßes für Parmenides. Dabei ist sein Argument scheinbar sehr einleuchtend: Denken bedeutete für Parmenides Ausschluss von Widersprüchen. Ein Gedanke ist falsch, wenn sich aus ihm gegensätzliche Aussagen ableiten lassen. Sein ist Nichtsein, Unendlichkeit ist Endlichkeit, Bewegung ist Ruhe, sind einander widersprechende Aussagen und können deshalb nicht wahr sein.
Und er wusste: Denken ist dasselbe wie des Gedankens Gegenstand. Die Eigenschaften des Denkens sind die Eigenschaften des Seins. Wahres Sein ist das, was wahr gedacht wird.
Heraklit behauptete aber: Das Sein aller Dinge ist ihr Werden und Vergehen. Sein ist, erwiderte Parmenides. Was ist, war immer, ist immer und wird immer sein. Was entsteht, war nicht, was vergeht, wird nicht sein. Was nicht war und nicht sein wird, ist auch nicht. Wenn, was entsteht und vergeht, nicht ist, und Heraklit recht hat, bedeutet das: Sein ist Nichtsein.
Für Parmenides war das keine wahre Aussage, und er entgegnete dem Heraklit: „Wohlan, ich will es dir sagen, welche Wege der Forschung allein denkbar sind. Du aber höre mein Wort und bewahr’ es wohl! Der eine zeigt, dass das Seiende ist und dass es unmöglich ist, dass es nicht ist. Das ist der Pfad der Überzeugung; folgt er doch der Wahrheit. Der andere aber behauptet, dass es nicht ist und dass es dieses Nichtsein notwendig geben müsse. Dieser Weg ist – das sage ich dir – völlig unerforschlich. Denn das Nichtseiende kannst du weder erkennen, denn das ist unmöglich, noch auszusprechen.“
Die Aussagen des Heraklit über das Sein konnten also nicht wahr sein. Das Gegenteil musste es sein: „[…] [D]ass es ganz und unbeweglich ist. […] Aber da das Seiende eine letzte Grenze hat [also nicht unendlich ist! – R. S.], so ist es nach allen Seiten hin vollendet, gleich der Masse einer wohlgerundeten Kugel, von der Mitte nach allen Seiten hin gleich. Denn es darf weder hier noch dort irgendwie größer oder kleiner sein. Denn es gibt ja nichts, was es hindern könnte, sich zusammenzuschließen, noch gibt es ein Seiendes, das hier mehr, dort weniger wäre als Seiendes. Denn es ist völlig unverletzlich. Denn der Punkt, wohin es von allen Seiten gleich weit ist, ist selber von den Grenzen gleich entfernt.“
Das wahre Sein ist unbeweglich, ist endlich, ist ohne Unvollkommenes, ich gleichmäßig, ist rund, ist Sein, ist nicht Nichtsein.
Das klingt auf den ersten Blick sehr paradox. Die Aussagen des Parmenides über das Sein sind tatsächlich nicht richtig. Aber es sind logische Schlüsse über den hochgradig abstrakten Begriff des Seins eines Menschen, der vor 2.500 Jahren gelebt hat, als noch die Götter den Olymp beherrschten! Dass dies gedacht wurde, obwohl es dem Offenkundigen widerspricht, ist an jenem Punkt ein großer Schritt in der Geschichte des menschlichen Denkens gewesen.
Für Zenon lautete nun die Aufgabe: Das muss bewiesen werden. Und der Schüler schmiedete seinem Meister ein scharfes Schwert. Das Instrument seiner Beweisführung war die Aporie, der ausgeschlossne Widerspruch. Bei dieser Methode nimmt der Argumentierende den Standpunkt seines Kontrahenten ein und leitet daraus logische Schlussfolgerunge ab, die sich widersprechen und nicht gleichzeitig richtig sein können. Platon berichtet über die Absicht und Methode des Zenon: „Wissen wir nicht, dass [Zenon] so kunstvoll disputierte, dass seinen Zuhörern ein und dasselbe Ding gleich und ungleich, als Eins und als Vieles, als bewegt und unbewegt erschien?“ „In Wahrheit will [Zenons] Schrift der Lehre des Parmenides zu Hilfe kommen, gegen diejenigen nämlich, die es unternehmen, ihn zu verhöhnen, indem sie ausführen, dass, wenn es nur ein einziges Seiendes gäbe, sich aus diesem Satz viele lächerliche Konsequenzen ergäben, die ihm selber widerstreiten. [Seine] Schrift kämpft also gegen diejenigen, die die Vielheit der Dinge behaupten, und zahlt ihnen mit gleicher Münze heim […]. [Seine] Absicht ist nämlich, das offenbar zu machen, dass die Voraussetzung [seiner] Gegner zu noch lächerlichen Konsequenzen führt als die Lehre von einem Seienden, wenn einer der Sache auf den Grund geht.“
Überliefert sind uns die Aporien des Zenon über die Teilbarkeit der Dinge, den Raum und die Bewegung.
Jeder Körper nimmt einen Raum ein. Wenn jeder Körper unendlich teilbar ist, müssen auch alle Teile des Körpers für sich einen Raum einnehmen. Eine unendliche Anzahl von Teilen, die einen Raum einnehmen, ergibt aber einen Körper von unendlicher Ausdehnung. Wenn die unendlichen Teile des Körpers aber keinen Raum einnehmen, besitzt auch der Körper keine Ausdehnung, weil die Summe von unendlichen Teilen, deren Ausdehnung Null beträgt, ebenfalls Null ist. Die Annahme von der Teilbarkeit der Dinge führt also zu den gegensätzlichen Schlussfolgerungen, dass jeder Körper zugleich unendlich klein und unendlich groß sei. Für Zenon ist die Aussage deshalb unwahr, und die Teilbarkeit keine Eigenschaft des Seins
Gegen die Existenz des Raumes wendet sich Zenon, indem er fragt: „Wenn der Raum etwas ist, worin wird er sein?“ „Wenn alles Seiende im Raum ist, so ist klar, dass es auch einen Raum des Raumes geben wird, und so fort bis ins Unendliche.“ Das hieße, dass der Raum sowohl endlich als auch unendlich ist. Und weil die Annahme des Raumes zu unwahren Aussagen führt, kann der Raum in Wahrheit nicht existieren.
Die Aporien Zenons über die Unmöglichkeit der Bewegung sind über den Namen ihres Entdeckers als kuriose Gedankenspiele bekannt geworden. Zu verdanken haben wir das Aristoteles. Er berichtet: „Es gibt vier Beweisgänge des Zenon betreffs der Bewegung […]: das erste dafür, dass eine Bewegung nicht stattfindet, ist das Argument, dass das Bewegte früher zur Hälfte des Weges gelangen muss als bis zu dessen Ende […].“ Weil das Bewegte zuerst die Hälfte der Hälfte eines Weges erreichen muss und jeder Abschnitt des Weges unendlich halbierbar ist, kann das Bewegte sein Ziel nicht nur niemals erreichen, sondern seinen Ausgangspunkt auch niemals verlassen.
„Der zweite Beweis ist der so genannte ‚Achilles’. Er gipfelt darin, dass das langsamste Wesen [die Schildkröte] in seinem Lauf niemals von dem schnellsten Achilles eingeholt wird. Denn der Verfolger muss immer erst zu dem Punkt gelangen, von dem das fliehende Wesen schon aufgebrochen ist, so dass das langsamere immer einen gewissen Vorsprung haben muss.“
„Der dritte Beweis ist […], dass der fliegende Pfeil ruht.“ Zu jedem Zeitpunkt seines Fluges nimmt der Pfeil einen Raum ein, der seiner Länge und Stärke entspricht. Die Bewegung des Pfeils ist die Summe seiner Raumeinnahmen. Bewegung bedeutet aber, sich nicht in einem Raum zu befinden. Oder: Einen Raum einnehmen, heißt, sich nicht zu bewegen. Die Bewegung des ist also die Summe seiner Ruhezustände. Ruhe plus Ruhe ergibt aber niemals Bewegung.
„Der vierte Beweis gründet sich auf Körpergruppen, die sich im Stadion in entgegengesetzter Richtung, als gleiche an gleichen, mit gleicher Schnelligkeit aneinander vorbeibewegen, die eine Gruppe vom Ende, die andere von der Mitte des Stadions aus, wobei, wie er meint, sich ergibt, dass die halbe Zeit gleich der doppelten sei!“ In einem Stadion befindet sich eine Reihe von stehenden Läufern (A1-4). Von beiden Seiten läuft jeweils eine zweite (B1-4) und dritte Reihe von Läufern (C1-4) in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit an den stehenden Läufern vorbei. Die Reihe B1-4 läuft dann in derselben Zeit vorbei an der ganzen Reihe C1-4 und der halben Reihe A1-4. Unter diesem Gesichtspunkt wäre: 1 = 0,5 oder 4 = 2.
Auf diese Weise leitete Zenon aus der Annahme, dass Bewegung existiert, vier unwahre Aussagen hab. Damit schien der Beweis erbracht, dass die Annahme unwahr ist und das wahre Sein nicht in Bewegung sein kann.
Tatsächlich konnte Zenon mit den Ergebnissen seiner Aporien zufrieden sein. Denn es ist ihm gelungen, nachzuweisen, dass der Seinsbegriff des Parmenides die einzige Schlussfolgerung des logischen Denkens ist. Allerdings nur unter einer Voraussetzung: Zwei Aussagen sind unwahr, wenn sie sich einander widersprechen. Damit hat Zenon die antike Philosophie nicht nur entscheidend beeinflusst. Er hatte die ihm folgenden Philosophen vor die Herausforderung gestellt, das Offenkundige mit dem Logischen zu vereinen.
Die Atomisten lehrten, dass die Welt aus kleinsten Teilen besteht, die sich auf unterschiedliche Weise abstoßen und vereinen und dadurch die Vielfalt der einzelnen Dinge hervorbringen. Sie übernahmen damit einen Teil der Seinsvorstellungen des Parmenides, nämlich, dass das Sein nicht entsteht und vergeht. Neue Fragestellungen und Erkenntnisse konnten dadurch gewonnen werden. Aber das Problem der Zenonschen Aporien war auch dadurch nicht gelöst. Viele Denker beriefen sich auf Zenon. Viele Denker wollten ihn widerlegen. Aber für Jahrtausende hat keiner die tatsächliche Bedeutung seiner Philosophie richtig verstanden.
Nicht einmal Zenon selbst. Doch auf dem damaligen Stand des Denkens war das nicht möglich. Die vorsokratische Philosophie war begriffliches Denken. Jeder Begriff bezeichnet Dinge des Seins, indem er seinen Inhalt definiert und damit von anderen Begriffen abgrenzt. Im begrifflichen Denken sind z. B. Ruhe und Bewegung Bezeichnungen für zwei gegensätzliche, einander widersprechende Zustände. Das ist nicht falsch, sondern notwendig, um die Welt überhaupt begrifflich zu erklären. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Tatsächlich treten die Begriffe in der Wirklichkeit nicht getrennt voneinander auf. Ruhe existiert z. B. nur in Abhängigkeit zu einer Bewegung. Und die Bewegung eines Körpers lässt sich, wie Zenon richtig bemerkte, nur beschreiben als die Aneinanderreihung (unendlicher) Ruhezustände. Beide Begriffe bezeichnen zwar etwas Gegensätzliches, ihre Inhalte treten aber in der Wirklichkeit nur als Einheit auf, die sich aufeinander beziehen.
In der Wirklichkeit sind die Dinge und sind die Dinge nicht. Sein ist Nichtsein. Das ist die konzentrierte Formulierung dieser Einheit der Gegensätze. Das Sein ist das, was allen Dingen gemeinsam ist und sich durch nichts von anderen Dingen unterscheidet. Es ist nicht definiert, durch nichts konkret bestimmt. Was aber durch nichts konkret bestimmt ist und keine Definition besitzt, ist nichts. Dann ist Sein Nichtsein. Wenn das Nichts aber etwas ist, dann ist es. Und dann ist Nichtsein Sein.
Das begriffliche Denken definiert die Begriffe zwar, indem es sie voneinander abgrenzt, kann sie aber in der Wirklichkeit nicht mehr als Einheit fassen. Ironie oder Dialektik des Denkens: Zenons Aporien richten sich letzten Endes gegen ihre eigene Voraussetzung, dass zwei widersprüchliche Aussagen nicht gleichzeitig wahr sein können. Denn erst von diesem Standpunkt aus ergeben sich zwar logische, aber scheinbar widersinnige Schlussfolgerungen.
Die große Herausforderung des Zenon an die Philosophie lautete: Wie kann das Denken die Dinge des Seins begrifflich voneinander trennen und gleichzeitig ihre Gegensätze als Einheit denken; wie kann es die Dinge mit feststehenden Begriffen definieren und gleichzeitig in ihrer Veränderung und in ihrer Bewegung begreifen?
Die vorsokratische Philosophie war bestimmt von naiven und unvollkommenen Formen des Materialismus und der Dialektik. Die Bereiche des Denkens, die Wissenschaften hatten sich noch nicht voneinander getrennt. Die Gelehrten der Antike waren Naturwissenschaftler, Erfinder, Politiker und Philosophen in einer Person. In den philosophischen Fragen nach dem allgemeinen Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt kamen die antiken Philosophen nicht auf den Gedanken, von anderen Vorraussetzungen auszugehen als in ihrer Betrachtung der Natur. Der Gedanke des Parmenides, dass Denken dasselbe wie des Gedankens Gegenstand sei, ist zwar genial, aber der unbewusste Reflex auf seinen Standpunkt bei der Erforschung der Natur. Seine wahre Bedeutung konnte Parmenides noch nicht begreifen. Denn er wusste nicht, dass die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein auch auf andere, gänzlich entgegengesetzte Weise beantwortet werden könnte. Um das zu wissen, hätte er in der Lage sein müssen, die Begriffe von den Dingen loszulösen, das Denken als Substanz dem Sein entgegen zu stellen und als Ursprung des Seins aufzufassen.
Die Vorsokratiker hatten nämlich noch nicht das Maß an Abstraktionsfähigkeit erreicht, um in ihrem philosophischen Denken nicht von den Erscheinungen der Natur auszugehen. Ihre geringe Abstraktionsfähigkeit hinderte sie daran, in ihren Vorstellungen über das Sein über das rein begriffliche Denken hinauszugehen. Die ionischen Naturphilosophen erkannten, dass die Dinge um sie herum in Bewegung sind, wie Blitze am Himmel vergehen und entstehen. Und auch sie trennten die Bewegung der Dinge und ihre Vielheit von der Ruhe und von der Einheit des Seins. Ganz natürlich begannen sie das Philosophieren mit der Suche nach einem unveränderlichen, ruhigen Urgrund aller Dinge.
Um einen Abstraktionsgrad zu erreichen, der es ermöglicht, die Einheit der Widersprüche gedanklich zu fassen, musste der sinnlich-konkrete Ursprung der Philosophie überwunden werden. Zenon hatte die Widersprüchlichkeit der Begriffe quantitativ bis an den Punkt entwickelte, an dem zur Lösung der Probleme nur noch blieb: Der Sprung des Denkens in eine höhere Qualität der Abstraktion.
In der antiken Philosophie bedeutete dieser Schritt, dass die Begriffe von den Dingen, die sie bezeichnen, löst wurden. Die Idee als Substanz wurde geboren und das Denken endgültig vom Sein getrennt. In diesem Sinne war die Ideenlehre des Platon, des Begründers des objektiven Idealismus, eine Konsequenz der Zenonschen Aporien.
Im diesem „Reich der Ideen“, im philosophischen Idealismus, entwickelte sich über Jahrhunderte das begriffliche Denken zum dialektischen Denken. Vollendet wurde dieser Prozess von Georg Friedrich Wilhelm Hegel, und von Karl Marx wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Erst dadurch löste sich die scheinbare Widersinnigkeit der Aporien des Zenon auf in die tatsächliche Einsicht in die dialektische Einheit der Widersprüche.
Und in der langen Geschichte des dialektischen Denkens gebührt Zenon von Elea die Ehre, als Erster den Gegensatz von begrifflichem und dialektischem Denken offenbart zu haben.
Roman Stelzig