Dienstag, 22. Juni 2010

Die Methode - Ein Film von Marcelo Piñeyro

Madrid um die Wende zum 21. Jahrhundert: Auf den Straßen der Hauptstadt tobt der ursprüngliche, spontane Klassenkampf der Globalisierungskritiker und Gegner der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Demonstrationen, Massenproteste, brennende Autos, Straßenschlachten und eine Polizei, die mit unbarmherziger Härte gegen die Demonstranten vorgeht. Derweil in einer der obersten Etagen eines der Madrider Wolkenkratzer – In einem Elfenbeinturm in Wolkenkuckucksheim, könnte man vermuten. Doch was hier geschieht, ist nicht weniger real als die Demonstrationen auf der Straße. – schmiedet das Kapital seine Waffen, hält Heerschau und sammelt sich zur Wahl seiner Feldherren.
Zugeben, das ist eine martialische Sprache für das, was der argentinische Regisseur Marcelo Piñeyro in seinem Film „Die Methode“ auf feinere und subtilere Weise dargestellt hat. In einem Sitzungssaal des fiktiven Großkonzerns DEKAI sammeln sich sieben Menschen, die nach einem umfassenden Verfahren dazu auserwählt wurden, eine letzte Auswahlrunde für die Besetzung eines Managerpostens des Konzerns zu bestehen. Die angewandte Methode zur Wahl des geeigneten Kandidaten ist die sogenannte „Grönholm-Methode“. Gesucht wird bei dieser Methode nicht nach beruflicher Qualifikation oder persönlichen Fähigkeiten, sondern nach der geeigneten psychologischen Verfassung für eine Laufbahn in den Chefetagen des kapitalistischen Großkonzerns. Den Teilnehmern steht es frei, den Sitzungssaal und damit die Auswahlrunde zu verlassen; wer bleibt, muss sich den Regeln beugen. Und die lauten: Der Gruppe werden Aufgaben und Fragen gestellt, die alle Teilnehmer entweder gemeinsam oder gegeneinander lösen müssen. Wer die gestellten Aufgaben nicht erfüllen kann oder von der Gruppe dazu bestimmt wird, muss das Verfahren verlassen und die Hoffnung auf den zur Wahl stehenden Posten für immer fallen lassen.
Was auf diese Weise von Marcelo Piñeyro inszeniert und von sieben brillanten Schauspielern in einem spannungsgeladenen Kammerspiel in etwa 115 Minuten dargestellt wird, ist eine Neuauflage von „Kabale und Liebe“. Zwar nicht in der Darstellung des Milieus. Das Drama Friedrich Schillers aus dem Jahre 1784 schildert den moralischen und geistigen Zustand der spätfeudalen Adelsgesellschaft. Aber ihrem Inhalte nach schildern beide den moralischen und geistigen Verfall einer untergehenden aber dennoch herrschenden – oder herrschenden aber dennoch untergehenden? – Klasse, ihre Intrigen und ihre Winkelzüge.
Der Film verdeutlicht auch, dass man nicht in die vulgäre Weltsicht verfallen sollte, die Protagonisten und Agenten des Kapitals hätten es allzu leicht in ihren Rollen. „Schweißtriefend bückt sich der Mann, der das Haus baut, in dem er nicht wohnen soll. Aber es schuftet schweißtriefend auch der Mann, der sein eigenes Haus baut.“ (Brecht) Die ökonomische Konkurrenz des Kapitalismus zwingt nicht nur Millionen Menschen in Hunger und Elend, treibt nicht nur Millionen Menschen in den Tod durch Krieg und Terror, lässt nicht nur die Polizeiknüppel auf die empörte aufbegehrende Masse hernieder prasseln; sie verlangt auch von den Protagonisten der ökonomischen und politischen Macht: "Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!" (Dante) Was für die Teilhabe am den Massen der arbeitenden Menschen entzogenen Mehrprodukt erwartet wird, ist nicht mehr und nicht weniger als unbedingte Loyalität, die Beseitigung aller persönlicher moralischer Skrupel bis zur Selbstaufgabe im Dienste der Klasse. So scheitert etwa der junge, aufstrebende und engagierte Enrique im Auswahlverfahren nicht an der Bereitschaft zur Unterordnung, zu moralischer Verfehlung und zum persönlichen Verrat. Woran er zerbricht ist die Suche nach der moralischen Instanz außerhalb von sich selbst, die ihn psychologisch nicht dazu befähigt, die vorauseilende Loyalität und Unterordnung aus sich selbst heraus zu beziehen. In der Sphäre der Macht, in die er aufsteigen möchte, reicht es nicht mehr, Befehle zu befolgen, man muss den Verrat schon selbst wollen. Denn die Herrschaft duldet keinen Zweifel.
Am Ende ist der Sieger dieses zynischen Spektakels nicht unbedingt der Gewinner. Er hat als einziger erreicht, wonach alle strebten, um den Preis dessen, was er eigentlich einmal zu gewinnen hoffte. Man fühlt sich erinnert an den adornoschen Odysseus, der sich zehn Jahre seines Lebens mit den Göttern stritt, um sein freies Leben zu gewinnen, und für den Zweck seiner Odyssee schließlich mit diesem Zweck selbst bezahlen musste: Seine Lebenszeit. So pervertiert schließlich beim Karrierismus der Protagonisten wie alles in der kapitalistischen Produktionsweise das ursprüngliche Mittel zum eigentlichen Zweck: Aufgestiegen auf der Karriereleiter wird nicht mehr, um zu leben, sondern gelebt wird, um die Karriere voran zu bringen, und in den Tempeln des sozialen Aufstiegs wird den Göttern der Gegenwart geopfert, was zu bewahren sie einst geschaffen wurden: das Leben.
Mit dieser Darstellung der geistigen Entfremdung der herrschenden Eliten des Kapitalismus liefert Marcelo Piñeyro mehr als nur ein psychologisch durchdachtes Kammerspiel. Es geht in dem Film nicht schlechthin um die abstrakte Frage, wozu Menschen moralisch fähig und auf welche Weise sie manipulierbar sind losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie leben. Wer die Handlung des Filmes in einem solchen allgemein-menschlichen Sinne interpretiert, beraubt sie ihres eminent politischen Gehaltes. Es handelt sich bei dem Film „Die Methode“ um nichts anders ein Porträt der herrschenden Klasse und ihrer Agenten, um die Entlarvung dessen, was sonst nur hinter verschlossenen Türen geschieht. Es geht um die Feststellung, dass den demonstrierenden Massen der Straßen eine reale Macht gegenübersteht, die nicht nur eine Chimäre weltfremder Verschwörungstheoretiker ist, sondern die, wie Brecht sagt, Namen, Adressen und Gesichter besitzt und die ihr Denken ableitet aus einer Herrenmenschenideologie und deren Handeln bestimmt wird vom Imperativ der absoluten Befreiung von jeglichen moralischen Skrupeln. Man kann die Protagonisten bedauern der objektiven Zwänge wegen, denen auch sie unterlegen sind und die sie beständig zwingen, sich selbst zu entfremden; Mitleid, Nächstenliebe, Menschlichkeit, moralische Skrupel, Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gerade in den Belangen der Erhaltung von Natur und Menschen gegen profitorientierte kapitalistische Ausbeutung sollte man von ihnen dennoch nicht erwarten.
Statt dessen deutet Marcelo Piñeyro in der Schlusssequenz seines filmischen Kunstwerkes, das herkömmlichen Hollywood-Produktionen zwar medial unterlegen ist, die es aber an geistigem Gehalt, künstlerischer Gestaltung und schauspielerischer Leistung um Längen überragt, das Moment der Überwindung des dialektischen Antagonismus der kapitalistischen Gesellschaft mitsamt der Entfremdung der herrschenden Eliten an: Die vorletzte verbliebene Person verlässt niedergeschlagen und angefüllt mit den seelischen Trümmern aus dem verlorenen Kampf den Tempel der Macht und betritt die Straßen Madrids, die gesäumt sind von brennenden Autos und übersäht mit den Spuren der soeben geschlagenen Klassenschlacht. Und es scheint, als flüsterten die brennenden Autos dem die Straße entlang und vorbeigehenden Menschen ins Ohr: „Schwer ist der Weg.“ Aber! „Es gibt nur diesen einen.“ (Johannes R. Becher)

Roman Stelzig

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