Sonntag, 21. März 2010

das Ende der Geschichte oder Tausend und eine Nacht

in Bagdad ist es alles ruhig...
dort ist der Dschinn für immer in einer Lötlampe gefangen
und über Minaretten verläuft die Schwangerschaft
des Mondes ohne Komplikationen.
die Bettenhäuser eines Hospitals stehen
sich wie zerstritten gegenüber.
die Apotheke ist mit einem roten Kreuz gekrönt.
in Bagdad ist es alles ruhig...
dort reibt der Aladin den Lauf der Pistole -
so hat es ihm der Zauberer aus Maghreb beigebracht.
Hochhäuser stehen wie Betonmatratzen befleckt mit
Sperma und Zeiger auf einer Bahnhofsuhr
schwimmen so langsam
wie Fische gegen den Strom.
in Bagdad ist es alles ruhig...
dort trägt die Erde Öl wie Trauer
und der gestreifte Ball steht ohne
Zweck auf der Elfmeterlinie seit Herbst.
dort setzt sich der Mond in einen Sessel aus Wolke
und Minarette qualmen
mit Morgennebel wie Schornsteine.
in Bagdad ist es alles ruhig...
dort trifft der Aladin ins Schwarze
auf der Brust der heißgeliebten Prinzessin.
der Zauberer aus Maghreb nimmt einen
Schluck Gin aus der Flasche
und endet dieses Märchen mit den Worten,
dass ein Flugzeug am Himmel einen Streifen zieht
als ob Gott eine Zigarettenpause einlegte.

von Sergej Tenjatnikow

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Freitag, 19. März 2010

Einer trage des anderen Last

Antagonistische Widersprüche begegnen sich im Jahre 1950 in einem privaten Sanatorium für Lungenkranke in der noch jungen Deutschen Demokratischen Republik.
Der junge Joseph Heiliger ist Volkspolizist, glühender Anhänger des Marxismus und Mitglied der SED. Während seines Dienstes an den Grenzen der DDR erlebte er den Tod eines Kameraden, anschaulicher Beweis für ihn, dass der junge Staat der Arbeiter und Bauern, dessen Aufbau und Verteidigung er sich verschrieben hat, Feinde besitzt. Über seinem Bett hängt ein Bild Stalins und in den Stunden vor dem Einschlafen studiert er das Kommunistische Manifest und die Werke Lenins.
Der etwas gleichaltrige Hubertus Koschenz ist evangelischer Vikar und überzeugter Anhänger des christlich-evangelischen Glaubens. Sein Vater ist 1946 nach einem Besuch auf der Kommandantur der Sowjetischen Militäradministration spurlos verschwunden, seine Mutter lebt von 90 Mark Rente, anschauliche Beweise für ihn, dass auch im jungen Staat der Arbeiter und Bauern die Freiheit des Glaubens noch mehr Ideal als Wirklichkeit ist. Über seinem Bett hängt ein Bild Jesus Christus’ und in den Stunden vor dem Einschlafen studiert er die Bibel.
Beide Menschen sind vor eine ungewöhnliche Situation gestellt: Sie leiden an lebensbedrohlicher Lungentuberkulose und sind Zimmernachbarn in einem Sanatoriums, in dem die Zeit still gestanden zu sein scheint. Ihre weltanschaulichen Differenzen bestimmen schon bald ihr Zusammenleben und den Alltag im Sanatorium. Während Joseph Heiliger die Genossen des Sanatoriums zu Parteiversammlungen ruft, führt Hubertus Koschenz Bibelstunden durch und die idyllische Ruhe des Sanatoriums wird beim morgendlichen Rasieren durchbrochen vom antagonistischen Duett der Internationale und des Liedes „Eine feste Burg ist unser Gott.“ Ausgerechnet der Chefarzt des Sanatoriums und das ehemalige Mitglied der NSDAP, das für seine Arbeit im Sanatorium jeder Partei – „auch Ihrer, Herr Heiliger“ - beitreten würde, bringt das anliegen des Filmes auf den Punkt: „Draußen im Leben können Sie auch keinen Bogen umeinander machen. Sie müssen miteinander auskommen. Und wenn Sie das nicht können, dann taugt Ihr Sozialismus genauso wenig wir Ihr Christentum. Wir leben nämlich auf einer Erde. Und wenn zwei junge, intelligente Männer mit verschiedenen Weltanschauungen nicht einmal um den Preis ihrer Gesundheit, um den Preis ihres Lebens für ein paar Monate wie zivilisierte Menschen miteinander umgehen können, dann sieht’s verdammt beschissen aus um die Menschheit!“
Aber das Miteinander zweier Weltanschauungen lässt sich nicht mit moralischen Appellen herstellen, es muss sich im Alltag an konkreten Fragen unter Beweis stellen. Eine religiöse Haltung, die der Befriedigung materieller Bedürfnisse entsagt, untergräbt in den Augen Joseph Heiligers den sozialistischen Aufbau und leistet allen Drückebergern und Schiebern Vorschub in einer Situation, die mehr als alles andere den materiellen Wiederaufbau eines Landes erfordert. Und das christliche Gedenken aller derer, die in Gefangenschaft leben, würde gehört und verstanden werden von denen, die zu unrecht, aber auch von denen, die zurecht inhaftiert sind. Dem gegenüber steht die alltägliche Erfahrung Hubertus Koschenz', dass die Freiheit des Glaubens für den einzelnen Menschen auch mit strikter Trennung von Kirche und Staat nicht immer geachtet und von einer materialistischen Weltanschauung bisweilen Feindschaft und Intoleranz gegenüber Religionen ausgeübt wird.
Dennoch lehrt das alltägliche Leben die beiden jungen Menschen, dass über ihre ideellen Widersprüche hinweg Gemeinsamkeiten zwischen ihnen bestehen, und aus weltanschaulichen Feinden werden Freunde, die einander achten und beistehen. Der ruhigere und vernünftigere evangelische Vikar Hubertus Koschenz bringt zum Ausdruck, was Christentum und Marxismus vom christlichen Standpunkt miteinander vereinen kann: „Eine Kirche, die ihren göttlichen Auftrag ernst nimmt, wird Leute, die soziale Gerechtigkeit herzustellen versuchen, nicht verdammen, sondern als Gottes Werkzeug ansehen, seien sie nun gottlos oder fromm.“
Die Konfrontation mit dem Tod bringt beiden Menschen endlich die Gegensätze aber auch die unterschiedlichen Stärken und Schwächen ihres Denkens einander auf schmerzhaft aber hoffnungsvolle Weise nahe. „Konzentrationslager, Vergasung von Juden, die Folterungen, die Verstümmelungen, die Verbrennungen, die nicht zu zählenden Ungerechtigkeiten dieser Welt – Wenn es ihn wirklich geben würde, deinen Gott, Millionen Hände würden sich finden, ihn in Stücke zu reißen. Es gibt keinen Gott! Das ist die einzig logische Variante, mit all der Sinnlosigkeit fertig zu werden.“, klagt Joseph Heiliger seinem Freund. Aber als er der christlichen Opferbereitschaft seines Freundes im Angesicht des Todes gewahr wird, entgegnet Hubertus Koschenz ihm, dass Sterben für einen Christen anders sei als für einen Materialisten. „Sterben ohne Hoffnung, ohne Glauben? Die letzte Stunde muss für einen von euch die Hölle sein.“
In seinem charmanten und durchdachten filmischen Plädoyer für die Toleranz, das 1988 in der DDR erschienen ist, löst der Regisseur Lothar Warneke den Grundwiderspruch zwischen Marxismus und Christentum auf dialektische Weise mit der Freundschaft zweier junger Menschen, die nach dem Grundsatz leben: „Darum lasset uns dem nachstreben, was zum Frieden dient“ – jeder auf seine Weise und einer trage des anderen Last.


von Roman Stelzig

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Donnerstag, 11. März 2010

Übergangszeit

von Roman Stelzig

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Samstag, 6. März 2010

Der Mythos Hemingway


Als sein Freund und Schriftstellerkollege, John Dos Passos, sich im Jahre 1938 während des Spanischen Bürgerkrieges in seinen öffentlichen Verlautbarungen auf die Seite Francos und Mussolinis stellte und behauptete, der Krieg in Spanien wäre dem spanischen Volk von den Kommunisten aufgedrängt worden, erwiderte Ernest Hemingway ihm in einem persönlichen Brief: „Die Sache ist, dass Du die Wahrheit nicht in zehn Tagen oder drei Wochen herausfinden kannst, und dieser Krieg ist lange Zeit nicht von den Kommunisten geführt worden. Wenn die Leute eine Artikelserie von Dir lesen, die sechs Monate und länger läuft, merken sie gar nicht, wie kurz Du in Spanien gewesen bist und wie wenig Du gesehen hast.“ Natürlich kämpften in den Reihen der internationalen Brigaden und an der Seite der Spanischen Republik russische Generäle und Kommunisten und „[e]s waren ein paar gute Russen in Spanien“. Aber auch Polen, Ungarn, Deutsche oder Jugoslawen kämpften in Spanien und, was für Ernest Hemingway wichtiger war: „Viele Leute werden kämpfen und ohne zu zögern sterben, um ihr Land vor einer ausländischen Invasion zu retten, und der Krieg ist weder von den Kommunisten noch von den Faschisten erfunden worden.“
Ernest Hemingway wollte von John Dos Passos keine Parteinahme für die Sache der spanischen Republik, für die er selbst so energisch eingetreten war, kein moralisches Urteil, keine Zustimmung; was er verlangte, war Wahrheit und, dass „wenigstens die Fakten richtig dargestellt“ würden.
Während des Spanischen Bürgerkrieges trat Ernest Hemingway als politischer Mensch sehr stark in Erscheinung. Nach dem Sturz des spanischen Königs Alfons XIII. 1931 wurde in Spanien zum zweiten Mal die Republik ausgerufen und 1936 kam es zur Bildung einer Volksfrontregierung der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien Spaniens. Der Aufstand des spanischen Militärs unter Führung General Francisco Francos löste einen von 1936 bis 1939 währenden Bürgerkrieg in Spanien aus, in dem auch faschistische deutsche und italienische Truppen in Spanien an der Seite Francos intervenierten. Damit bekam der Spanische Bürgerkrieg internationale Bedeutung. Der Krieg in Spanien war nicht nur ein innerspanischer Kampf zwischen Volksfrontregierung und putschenden Militärangehörigen, sondern die erste internationale Auseinandersetzung mit dem in Europa aufkommenden und auf andere Länder übergreifenden Faschismus. Intellektuelle, Künstler, Menschen der Öffentlichkeit unterstützten die Verteidigung der spanischen Republik und aus allen Teilen der Welt meldeten sich Freiwillige, die sich in den zur Legende gewordenen Internationalen Brigaden an den Kämpfen um den Erhalt der Republik in Spanien beteiligten.  In einem Brief äußerte Hemingway sich in folgender Weise: „Die Roten mögen so schlimm sein wie man es ihnen nachsagt, aber sie sind nun einmal die Ansässigen, die gegen die abwesenden Verpächter aufstehen, die Mauren, die Italiener, die Deutschen. Außerdem weiß ich, dass die Weißen noch schlimmer sind, da ich sie gut kenne, und ich würde mir die anderen gern einmal ansehen, um herauszufinden wie es mit deren humanitären Anspruch steht. Dies ist die Generalprobe für den unvermeidlichen europäischen Krieg.“
Hemingway trat zunächst 1936 dem „Ambulance Corps Committee“ der „American Friends of Spanish Democracy“ bei, für die er Geld sammelte zum Kauf von Krankenwagen und medizinischem und humanitärem Versorgungsmaterial für die Anhänger der spanischen Republik. Er schrieb Kommentare und öffentliche Stellungnahmen für einen Dokumentarfilm des spanischen, regierungstreuen Romanciers Prudencio de Pereda. Zusammen mit Dos Passos, der sich erst später den erwähnten faschistischen Positionen näherte, Archibald McLeish, Dorothy Parker, Lillian Hellmann, Dashiell Hammett u.a. gründete Hemingway die „Contemporary Historians Inc.“, mit welcher die Herstellung des Dokumentarfilms „Die spanische Erde“ des holländischen Regisseurs Joris Ivens finanziert wurde, in dessen Begleitung wir Ernest Hemingway auf einem Foto sehen an der Seite Ludwig  Renns, Schriftsteller und Kommandeur der Thälmann-Kolonne der XI. Internationalen Brigade. Werbeauftritte Ernest Hemingways und Vorführungen des Dokumentarfilmes in den USA brachten 1937 zusätzliche Spenden für die Sache der spanischen Republik ein. Im Zuge seiner journalistischen Tätigkeit in Spanien war er außerdem häufiger Gast des amerikanischen Freiwilligenbataillons „Abraham-Lincoln.“
Seit Oktober 1936 arbeitete Ernest Hemingway in Spanien als Korrespondent der „North American Newspaper Alliance.“ Er erzählte in seinen Depeschen aus Spanien von den Geschehnissen auf den Straßen Madrids: „Im Moment, wo ich dies schreibe, hat eine Granate ein Haus getroffen, die Straße vom Hotel ein Stück hinauf. In der Straße heult ein kleiner Junge. Ein Milizmann hat sich seiner angenommen und versucht ihn zu trösten. In dieser Straße wurde niemand getroffen, und die schon losgerannt waren, gehen langsamer und lachen nervös. Die stehengeblieben sind, sehen überlegen auf sie herunter, denn die Stadt, in der wir jetzt leben, heißt Madrid.“; berichtete den Lesern von seinen Erlebnissen bei der Einnahme von Teruel: „Plötzliche Rufe, die ganze Front entlang, und wir sahen, dass die Faschisten auf den gegenüberliegenden Höhen die ersten Gräben räumten. Sie sprangen auf und rannten und sprangen dann wieder auf und rannten. […] So ging es den ganzen Tag, und als es dämmerte, waren wir sechs Kilometer weiter als bei Beginn des Angriffs.“; beschrieb Rückzüge und Flüchtlingsströme: Es „[…] kamen uns Karren von Flüchtlingen entgegen. Auf einem kutschierte eine alte Frau. Sie heulte und schluchzte, während sie die Peitsche schwang. Es war die einzige Frau, die ich weinen sah, den ganzen Tag. Hinter einem anderen Karren gingen acht Kinder her, und ein kleiner Junge stemmte sich ins Rad, als sie nicht vorwärtskamen.“; oder gab Eindrücke wieder, wie die Menschen in Tortosa sich auf eine kommende Belagerung vorbereiten: „Jeder hatte sich in den Schotter hinter den Gleisen ein kleines Loch geschaufelt als Deckung, und ihre Bajonette spießten über die blanken Schienen, die bald verrostet sein würden. Die Jungengesichter hatten etwas von Männern. Jungen, denen ein Gefecht bevorsteht, können an einem Nachmittag zu Männern werden.“
In einem Lazarett der “American Friends of Spanish Democracy” begegnete Hemingway dem amerikanischen Freiwilligen Jay Raven, welcher ihm die Geschichte seiner Verwundung erzählte. „Ich hielt seine Hand fest und hörte ihm zu, aber ich konnte kein Wort glauben von dem, was er redete. […] Ich kannte seine Geschichte natürlich nicht, aber, was er erzählte, klang komisch. Es war genau das Zeug, das alle Verwundeten gerne zu erzählen hätten […] Im ersten Krieg, den ich miterlebt hatte, schwindelten die Verwundeten oft. Nicht gleich am Anfang, aber wenn’s eine Zeit her war. Ich hatte damals selber ein bisschen übertrieben, besonders abends, wenn es spät geworden war. […] Später auf der Straße lernte ich Ravens Bataillonschef kennen. […] Cunningham erzählte mir in seinem Militärjargon die Geschichte von der zusammengeschlagenen und zurückweichenden Einheit auf der rechten Flanke seines Bataillons und von dem Versuch, sie aufzuhalten. […] Für das, was er da gemacht hatte, hätte er im letzten Krieg das Victoria-Kreuz bekommen. In diesem Krieg gibt’s keine Orden, nicht einmal Verwundetenabzeichen. Die Wunden sind die einzigen Auszeichnungen. ‚Raven war auch dabei’, sagte er […] und er erzählte mir eine Menge […] aber am meisten interessierte mich die Sache mit Jay Raven […]. Was er mir erzählt hatte, war wahr. Das Sonderbare an dieser neuen Art Krieg ist, dass Sie genauso viel erfahren, wie Sie imstande sind zu glauben.“
Im September 1938 berichtete Hemingway seinen Lesern über den Versuch eines Journalisten, einen Artikel darüber zu schreiben, dass die spanische Regierung Terror auf die Madrider Bevölkerung ausübe. Er entlarvte seinen Kollegen als Lügner und klärte seine Leser darüber auf, „dass während der ersten Tage des Aufstands von denen, die hier ‚unkontrollierbar’ genannt wurden, Leute erschossen worden waren, aber seit Monaten sei Madrid so frei von Terror und sicher so fest in der Hand der Polizei wie irgendeine europäische Hauptstadt. […] Die wirklich wichtige Story war damals, dass in Madrid kein Terror herrschte.“ Hemingway muss mit diesem Satz beim Wort genommen werden. In einer historischen Situation, in der sich weltweit eine Auseinandersetzung zwischen faschistischen und demokratischen bzw. kommunistischen Staaten anbahnte und in Spanien zum ersten Mal durchgefochten wurde; in einer historischen Situation, in der erkennbar wurde, dass diese Auseinandersetzung als der größte und verheerendste Krieg der gesamten Menschheitsgeschichte geführt werden würde, von harten ideologischen Kämpfen begleitet, so dass die öffentliche Meinung für politische Entscheidungen ein nicht zu unterschätzendes Gewicht besitzen sollte; in diese historischen Situation war die Tatsache, dass in Madrid kein Terror herrschte, die wirklich wichtige Story. Die Tatsachen, dass eine gewählte Regierung in Spanien Krieg gegen putschende Militärangehörige und ausländische Invasoren führte, dass auch die Armee dieser Regierung nicht nur militärische Ziele traf aber die Regierung keinen Terror ausübte, dass an der Seite dieser Regierung Menschen verschiedener politischer Strömungen, auch Kommunisten, fochten, dass der Kampf in Spanien aber geführt wurde zur Verteidigung eines politischen Systems, welches sich die Menschen selbst gewählt hatten, von Menschen, die für ihre Heimat gegen ausländische Invasoren und Putschisten kämpften, die keiner Befehle, keiner Orden und Auszeichnungen bedurften – das war die wirklich wichtige Story, die der Journalist und Schriftsteller Ernest Hemingway schrieb und auch 1940 in seinem Roman „Wem die Stunde schlägt“ literarisch verarbeitete.
Aber die Wahrheit lässt sich nicht in „zehn Tagen oder drei Wochen herausfinden“, sie befindet sich nicht an der Oberfläche der schnell wahrnehmbaren Eindrücke und die Wahrheit ist niemals eindeutig, sie ist widersprüchlich und facettenreich, so wie die Wahrheit über Ernest Hemingway.
Folgt man dem Leben Hemingways, ist es, als durchblättere man ein Bilderbuch angefüllt mit Legenden und Wirklichkeit. Auch hier begegnet dem Zuschauer eine Facette des widersprüchlichen Lebens und Wirkens dieses Schriftstellers und Journalisten. Der Hang, sich zu inszenieren, das zu scheinen, was er gern gewesen wäre, gehört zu Ernest Hemingway genauso, wie die Tatsache, dass hinter den zum Teil selbst geschaffenen Mythen und Inszenierungen tatsächliche Fakten stehen; Fakten, wie eine durch eine Granate verursachte Verwundung am Knie, die sich der junge freiwillige Sanitäter 1918 an der österreichisch-italienischen Front während des I. Weltkrieges zuzog. Fast stolz auf seine Verletzung strahlt Hemingway den Betrachter auf einer Fotografie im Mailänder Lazarett an und in einem Brief an seine Familie spiegelt dieser Stolz sich in den Worten: „Ui, Leute, das hat vielleicht einen netten Wirbel gegeben, dass ich angeschossen wurde! Heut wurde ich mit Eichenlaub dekoriert, und da regte sich in mir der Gedanke, Leute, dass Ihr mich vielleicht nicht richtig geschätzt habt, als ich noch in Eurem Schoß weilte. Es ist fast so gut wie getötet werden und den eigenen Nachruf lesen. […] Während der sechs Tage, die ich vorn in den Frontgräben verbracht habe, nur 50 yds. von den Österreichern entfernt, stand ich in dem Ruf unverwundbar zu sein. So ein Ruf allein bedeutet nicht viel, aber es zu sein schon!“ Unverwundbar war Ernest Hemingway jedoch nicht, und die Erfahrung des Krieges, seine Verwundung und das ständige Erleben des Todes wurden zu einem prägenden Element seiner Arbeit. Literarisch verarbeitete er seine Erlebnisse während des I. Weltkrieges in seinem 1928 erschienen Roman „In einem andern Land“ und im II. Weltkrieg sehen wir Ernest Hemingway abermals in Militäruniform, diesmal als Kriegsberichterstatter. In seiner ihm eigenen lakonischen, bildhaft konkreten Schreibweise berichtete er den Lesern des „Collier’s“ vom Kampf um die Siegfriedlinie:
Handgranaten hatten wir keine mehr, und die Krauts aus dem Bunker wollten nicht rauskommen […] Da holten wir den T.D. um den Bunker herum, und er fuhr direkt vor die Stahltür, die wir inzwischen gefunden hatten, und die alte Wump-Gun schoß, schoß sechsmal und sprengte die Tür auf, und dann hätten sie hören sollen, wie sie herauskommen wollten. Sie konnten sie brüllen hören und stöhnen und ‚Kamerad!’ jammern und schreien. Der T.D. hatte direkt auf die Tür gehalten, und jetzt kamen die ersten, und so was haben Sie noch nicht gesehen. Jeder hatte was abgekriegt, jeder der fünf oder sechs verschiedene Wunden von den Stahl- und Betonsplittern. Ungefähr achtzehn kamen heraus. Sie waren noch ganz gut. Aber die ganze Zeit über hörte man drinnen ein klägliches Jammern und Stöhnen, und da war einer, dem von der Stahltür die Beine abgeschnitten waren.“ Möglicherweise verursachten die Erfahrungen, die er während des I. und II. Weltkrieges und im spanischen Bürgerkrieg gesammelt hat, bei Hemingway eine Affinität zum Tod, was die Wahl seiner literarischen Sujets ebenso beeinflusst haben mag wie die ihm vom Vater anerzogene Liebe zur Natur und sportlichen Betätigung. Ein solcher Gedanke drängt sich jedenfalls auf, wenn man die Zeilen liest: „Der einzige Ort, wo man Leben und Tod sehen konnte, das heißt gewaltsamen Tod, war die Arena, da die Kriege vorbei waren, und ich wollte brennend gern nach Spanien, wo ich das studieren konnte. Ich versuchte, schreiben zu lernen, indem ich mit den einfachsten Dingen begann, und eines der allereinfachsten Dinge und das fundamentalste ist der gewaltsame Tod. Er hat keine der Komplikationen des Todes durch Krankheiten oder des sogenannten natürlichen Todes oder des Todes von einem Freund oder von jemandem, den man geliebt oder gehasst hat, aber es ist der Tod nichtsdestoweniger, und er ist eines der Themen, über die ein Mann schreiben kann.“ In der Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts lernte Ernest Hemingway den Stierkampf in Spanien kennen und lieben. Der Stierkampf – die sportliche Auseinandersetzung zwischen Mensch und Tier, die allgegenwärtige Gefahr des Todes oder der Stolz und das Ehrgefühl der spanischen Matadores – sollte eines der Themen werden, denen sich Hemingway Zeit seines Lebens immer wieder in Kurzgeschichten und Zeitungsartikeln widmete. Er verarbeitete das Thema in seinem 1926 erschienen ersten Roman „Fiesta“ und berichtete 1931 ausführlich und reportagenhaft in seinem Buch „Tod am Nachmittag“ über Inhalt, Ablauf und Hintergründe des spanischen Stierkampfes. Ein Bild aus dem Jahre 1960 zeigt uns den gealterten und weißhaarigen Ernest Hemingway an der Seite seines Freundes und Lieblingstoreros Antonio Ordónes, dem er in seinem letzen zu Lebzeiten veröffentlichten Buch „Gefährlicher Sommer“  solcherart Denkmäler setzen sollte: „Antonio zielte entlang der Degenklinge, beugte sein linkes Knie vor, schwang dem Stier die muleta entgegen und ließ ihn bis zu dem Punkt an sich herankommen, wo die Hörner ihn erwischen würden, dann drang die Spitze des Degens ein, der Stier stemmte sich dagegen, den Kopf gesenkt, dem roten Tuch folgend, während Antonio mit der flachen Hand gegen den Degenknauf drückte, glitt die Klinge langsam oben auf der höchsten Stelle zwischen den Schulterblättern hinein. Antonio hatte seine Füße nicht bewegt, und der Stier und er waren jetzt eins, als seine Handfläche das schwarze Fell berührte, war das Horn schon an seiner Brust vorbei, und der Stier unter seiner Hand war tot.“
Naturverbundenheit, Auseinandersetzung mit dem Tod oder männliche Tugenden wie Tapferkeit waren auch bei der Leidenschaft Hemingways zur Jagt ausschlaggebend. Erhaben lächelnd, das Gewehr in der Hand, präsentierte sich Hemingway neben einem toten Leoparden; 1934 belehrte er seine Leser im „Esquire“: „Wenn Leoparden verwundet sind, greifen sie Sie an, in neun von zehn Fällen, und sind dabei so schnell, dass keiner sie mit dem Gewehr sicher stoppen kann. […] Sie stoppen einen Leoparden am sichersten  mit einer Schrotflinte, und Sie sollten nicht schießen, bis er auf zehn Schritte heran ist.“ Der Großwildjäger Wilson seniert in einer von Hemingways Kurzgeschichten: „Angst weg wie durch Operation. Etwas anderes wuchs an ihrer Stelle. Das Wesentlichste, was ein Mann hatte. Machte ihn zum Mann. Frauen kannten es auch. Keine Scheißangst.“ In dem 1935 veröffentlichten Buch „Die grünen Hügel Afrikas“ berichtete Ernest Hemingway über seine Erlebnisse auf einer Afrikasafari 1933/34.
Wie die Jagd, so begeisterte Hemingway auch die Hochseefischerei, ein Sport, den er vor allem in Key West, seinem Wohnort bei Kuba seit 1931, zur Entspannung und als Ausgleich für das Schreiben ausübte, und ein weiteres Foto zeigt uns Hemingway im Kreise einiger Freunde, einen selbstgefangenen Milar vom Heck seines Schiffes, der „Pilar“, aus dem Betrachter präsentierend. In seiner wohl bekanntesten Erzählung „Der alte Mann und das Meer“, erschienen 1952, vermittelte Ernest Hemingway einen berührenden Eindruck vom dreitätigen, zähen Kampf des alten Santiago mit einem Fisch und der Niederlage, die er erleidet als ihm bei seiner Ankunft im heimatlichen Hafen nur das von Haien zerfressene Gerippe seines Fisches bleibt und die Erkenntnis: „Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.“
Nicht nur sein Werk, auch der Privatmensch Hemingway liefert dem Betrachter eine schillernde Vielzahl unterschiedlicher, sich einander widersprechender Bilder. Da ist der konzentriert arbeitende Schriftsteller vor seiner Schreibmaschine, der Champion, wie er sich in Briefen an seinen amerikanischen Verleger Charles Scribner selbst bezeichnete, der seine Schriftstellerkollegen lässig aus dem Ring haut und nicht davor zurückschreckte in seinen Werken private Details bekannt zu geben, um sich für Schmähungen und verletzen Stolz zu rächen.
Da ist der grimmig dreinschauende Wanderer in Idaho, der in der rechten Hand eine Flasche Alkohol hält; unübersehbar ist auch in seinen Werken, dass Hemingways Alkoholkonsum das Maß des Durchschnittlichen überstieg. Da ist der Mann Hemingway und die Frauen; viermal war Hemingway verheiratet; kaum hielt er es länger mit ein und derselben Frau aus. Erst mit seiner letzten Ehefrau, Mary Welsh, verband ihn eine bis zu seinem Tod währende Gemeinschaft, obwohl auch sie Ausfälligkeiten des betrunkenen Hemingways und Gerüchte, wonach Hemingway Marlene Dietrich oder der neunzehnjährigen Adriane Ivancich Avancen gemacht hätte, aushalten musste. Und letzen Endes ist da auch der zynisch anmutende Abschluss eines Lebens, von dem der Nachwelt dankenswerter Weise kein Bild erhalten geblieben ist, das freiwillige Ausscheiden Ernest Hemingway aus dem Leben, welches dem Bekenntnis Santagios, dass der Mensch verlieren aber niemals aufgeben dürfe, so offensichtlich widerspricht. Nach etwa einjähriger Leidens- und Depressionszeit erschoss Hemingway sich am 2. Juli 1961. Aber Hemingways Selbstmord birgt noch den Widerspruch in sich. Auch wenn man den Tod eines Menschen niemals und schon gar kein freiwilliges Sterben bejahen kann, lässt sich ein im hohen Alter, von Krankheit und Schwäche geplagter, friedlich einschlafender Hemingway schwer denken. So bildet vielleicht Hemingways Selbstmord einen tragischen aber inszeniert anmutenden Abschluss eines Mythos, des Mythos Hemingway.

Wer die Wahrheit über Ernest Hemingway schreiben will, sollte den Mythos Hemingway nicht verschweigen. Es ist Teil der Wahrheit über Ernest Hemingway, dass sein Gesamtwerkes  hauptsächlich von den Themen Krieg, Stierkampf, Jagd und Fischerei bestimmt wird, dass seine Person für viele Menschen Symbol ist für Abenteurertum, Hedonismus und Männlichkeit und dass Ernest Hemingway den Mythos Hemingway schon zu Lebzeiten selbst mit erschaffen hat. Aber die Wahrheit lässt sich nicht in „zehn Tagen oder drei Wochen herausfinden“.
Die Behauptung, Hemingway sei ein politischer oder parteiischer Schriftsteller gewesen, wäre ebenso falsch wie die Behauptung, Hemingway sei gänzlich unpolitisch gewesen. Wie in vielen Bereichen seines Lebens und Wirkens begegnet man bei dem politischen Menschen Hemingway eine Ambivalenz, welche die Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit der Zeit, in der Hemingway lebte, hervorbrachte.
Über sein eigenes Verständnis seiner Rolle als Schriftsteller, seiner Stellung zum Politischen und zum Staat und seines Verhältnisses zum Kommunismus schrieb Hemingway in einem Brief an Iwan Kaschkin 1935: „Jeder versucht einen jetzt mit der Behauptung einzuschüchtern, wenn man nicht Kommunist werde oder einen marxistischen Standpunkt einnehme, wird man keine Freunde haben und allein sein. […] Ich kann jetzt kein Kommunist werden, weil ich nur an eines glaube: an Freiheit. Als erstes würde ich mich um mich selbst kümmern. Dann würde ich meinem Nachbarn helfen. Aber um den Staat kümmere ich mich überhaupt nicht.“ Ein Schriftsteller hat laut Hemingway nicht die Aufgabe, einen politischen oder Klassenstandpunkt einzunehmen, er hat nicht für Lohn und Anerkennung zu schreiben. Die Arbeit eines Schriftstellers sollte allein dem Anliegen dienen, große Kunst zu schaffen. „Ein echtes Kunstwerk ist von unbeschränkter Dauer; egal, welche politische Meinung darin steckt.“ Nur Schriftsteller ohne Talent seien darauf angewiesen, Klassenstandpunkte einzunehmen. „Wer genug Talent hat, ist in allen Klassen zu Hause. Er nimmt von ihnen allen und was er gibt, gehört jedem.“
Die Unabhängigkeit des Schriftstellers besitzt aber für Hemingway eine immanente Widersprüchlichkeit. Der Schriftsteller, der keiner Regierung Gehorsam schuldet, gleiche einem Zigeuner, einem Außenseiter, denn er ergreift weder für noch gegen irgendeine politische Strömung oder Klasse Partei.  Der Staat aber besitze die Eigenschaft, bürokratisch zu sein und „in dem Moment, in dem man eine Bürokratie gut genug kennt, wird man sie hassen. Denn sobald sie ein gewisses Ausmaß erreicht hat, muss sie ungerecht werden.“ Der Schriftsteller könne darum auch im Widerspruch zum Staat stehen. „Wenn er ein guter Schriftsteller ist, wird ihm die Regierung, unter der er lebt, nie gefallen. Seine Hand sollte sich gegen sie wenden, und ihre Hand wird immer gegen ihn sein.“
Dass Hemingway diesen Anspruch versucht hat umzusetzen, bzw. zumindest als Privatmensch eigene Positionen zu tagespolitischen Fragen seiner Lebenszeit besessen hat, beweißt u.a. ein von Hemingway zweimal unterschriebener aber vermutlich niemals abgeschickter Brief an Senator Joseph McCarthy aus dem Jahre 1950, in dem er feststellte, dass „eine ganze Reihe von Leuten […] allmählich die Nase voll von Ihnen“ haben. „[…] ich habe auch nie Gelegenheit gehabt, die Zahl Ihrer Wunden zu zählen und irgend etwas zu lesen, was ich mit dem vergleichen könnte, was Ihr Mundwerk, lies: Ihre Teufelszunge, oder doch lieber Mundwerk, von sich gibt. […] Sie langweilen manchen Steuerzahler zu Tode […]. Sie können hierherkommen  und umsonst kämpfen […] und zwar mit einem Kerl wie mir, der […] Sie für ein Arschloch hält, Senator, und Ihnen den Arsch wie noch nie ihn Ihrem Leben versohlen würde.“ Auch gegenüber dem sowjetischen Schriftsteller Konstantin Simonow beklagte Hemingway sich in einem Brief darüber, dass die Leute gut und intelligent seien, gute Absichten besäßen und einander gut verstünden, „wenn wir nur etwas Verständnis füreinander hätten, statt den wiederholten Vorführungen eines Churchill zu lauschen, der macht jetzt das, was er schon 1918/19 gemacht hat, um etwas zu bewahren, das heute nur durch Krieg bewahrt werden kann. Verzeihen Sie mir, wenn ich über Politik rede. Ich weiß, dass man mich immer für einen Narren hält, wenn ich das tue. Aber ich weiß, dass nichts zwischen der Freundschaft unserer Staaten steht…“
Das politische Engagement stellt aber nur einen Nebenaspekt des Gesamtwerkes Hemingways dar, in welchem Themen wie Stierkampf, Großwildjagd, Hochseefischerei und Krieg einen weit größeren Raum einnehmen als politische Stellungnahmen. Aber dass Nebensächlichkeiten nicht unwichtig und in besonderen historischen Situationen auch von großer Bedeutung sein können, bewies Hemingway selbst, als er die Tatsache, dass die spanische Regierung 1938 keinen Terror ausübte, als die wirklich wichtige Story bezeichnete.

von Roman Stelzig


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