Dienstag, 22. Dezember 2009

Postmodern sind wir entgleist

Die Arbeit bringt kein Geld,
stiehlt mir nur Zeit
die ich bräuchte, um der Welt
das Versprechen zu entlocken,
dass sie für immer hält,
nicht in Teile so zerfällt,
dass sie mir nicht mehr gefällt.

Eine starke Lokomotive
ist der Geist oder auch die Liebe
vielleicht auch deus oder ontos,
Wille, Sorge, Feuer, Orcus.
Bunte Wagen hinten dran;
auf die Mischung kommt es an.
Wie ist die Lehre zusammengesetzt?
Endet sie falsch, wird sie ersetzt.
Von hinten nach vorn werd ich gehetzt,
verstehe, bevor sich das Gleis zersetzt.

Doch heute fahren die Züge
in jede Richtung, überall hin.
Beliebig wird das Weltgefüge!
Mit jedem Zug, überall hin,
kann ich heut fahren,
wo bleibt der Sinn?
Kann aufspringen, mir zu eigen machen,
Vieles erklärt mir alle Sachen.
Ich weiß nicht mehr, was richtig ist,
zieh mich zurück. Ob man vergisst,
mir nachzutragen - den Entzug?
Postmoderne ist Weltbetrug!

Das Eine und das Ganze
wollen doch alle erhalten
außer einer Gruppe,
die nimmt wie eine Puppe
mein Gefühl und Einheitsdenken,
trampelts, tritts und schändets,
ich frag dich, wie dus fändest,
wenn dein Weltbild mit Beliebigkeit
gestellt wird neben die Endlichkeit
vom menschlichen Denken und der Materîe;
sowas gabs geschichtlich noch nie.

Ohne das Wort zu nennen,
sich in Begriffe verrennen,
auch die Bedeutung zu kennen
weißt du sicher was es heißt:
postmodern sind wir entgleist.

von Frank Ursin

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Montag, 21. Dezember 2009

Kurze Biografie einer Seele - Gedanken über Hermann Hesse (Teil 1/3)

Wer zum ersten Mal in seinem Leben ein Buch von Hermann Hesse zur Hand nimmt und aus innerem Antrieb, nicht aus äußerem Zwang, in die Gedankenwelt jenes Schriftstellers eintaucht, wird sich fühlen wie ein Entdeckungsreisender in einer ihm völlig unbekannten, gefahrvollen und doch mystisch anziehenden, reizvollen Welt.
Verschwommen, schemenhaft nur und unfasslich offenbaren sich die Gedanken jedem unbefangenen Leser und doch scheint jeder Satz tiefe Wahrheit und Erkenntnis zu enthalten. Hermann Hesse Lesen bedeutet Offenbarung, ist die Reise des Menschen in sein Innerstes, auf den verborgenen Grund seiner Seele. Ich behaupte nicht, dass jeder Mensch für die Lektüre der Bücher Hermann Hesses geschaffen ist. Aber welcher Mensch, der einmal aus eigenem Antrieb und Interesse Berührung mit seinen Bücher hatte, wird nicht das Gefühl gehabt haben: Jedes Buch von Hermann Hesse ist ein Spiegelbild der eigenen Seele, ist ein Blick ins eigene Ich?


Woher kommt diese Wirkung und warum vermochten gerade seine Bücher, „Demian“, „Peter Camenzind“, „Narziss und Goldmund“ oder „Der Steppenwolf“, über Generationen hinweg die Gedanken, Gefühle, Hoffnungen, Träume oder Ängste so vieler junger, v. a. intellektueller Menschen auszudrücken und ihnen Gestalt zu verleihen? Ich denke, die Antwort ist, dass Hermann Hesse in erster Linie einer der ehrlichsten und wahrhaftesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Hermann Hesse erzählt in seinen Büchern von „Peter Camenzind“ bis „Das Glasperlenspiel“ die Biografie seiner Seele, die Geschichte seiner eigenen Persönlichkeit offen und vorbehaltlos; er verschweigt dem Leser, oder besser gesagt, verschont ihn mit keinem noch so unerträglichen Detail: Jedes Laster, jede Amoralität, jede Angst, jeder Zweifel, jeder Schmerz, jede Scham, jede tief empfundene menschliche Schwäche sind in dieser Biografie genauso enthalten wie alles Edle und Gute, zu dem Menschen fähig sind.

Die äußere Geschichte dieser Seele begann am 02. Juli 1877 in der schwäbischen Kleinstadt Calw. Die Mutter Hermann Hesses, Marie Hesse, geborene Gundert, war die Tochter eines Missionars und erblickte, weil dieser gerade in Indien arbeitete, im fernen Osten das Licht der Welt. Auch der Vater, Johannes Hesse, entstammte einer Missionarsfamilie. Ihre Herkunft liegt in Estland und auch der Vater wirkte einige Jahre als Missionar in Indien. Ihre Kenntnisse der verschiedenen Sprachen Indiens, fernöstlicher Philosophien und Gedanken, der Märchen und der Kultur Ostasiens brachte die Familie mit nach Deutschland. Sie waren Teil der weltoffenen und toleranten geistigen Atmosphäre, in der der junge Hermann Hesse aufwuchs, und blieben Zeit seines Lebens ein prägendes Element seines Denkens und Schaffens. 1881-1886 unterrichtete der Vater im Basler Missionarshaus deutsche Sprache und Literatur und wirkte als Herausgeber eines Missionarsmagazins. So verlebte Hermann Hesse bereits seine frühe Kindheit in dem Land, das später seine Wahlheimat werden sollte. 1886 kehrte die Familie nach Calw zurück, denn der Vater trat in die Fußstapfen seines Schwiegervaters. Er wurde Angestellter und später Leiter des Calwer Verlagsvereins. In Calw besuchte Hermann Hesse die Lateinschule und der Besuch des Gymnasiums in Göttingen 1890-91 bereitete den Schüler auf das Landexamen vor, der Voraussetzung für den Besuch einer höheren Schule. Das Examen gelang und Hermann Hesse trat 1891 dem evangelisch-theologischen Seminar in Maulbronn bei. Sein einjähriger Aufenthalt in der Klosterschule von Maulbronn sollte Hermann Hesse ebenfalls prägen. Der mittelalterliche, sakrale Ort diente ihm u. a. als Vorbild für die Beschreibung der Schauplätze seines Romans „Narzis und Goldmund“ und der Erzählung „Unterm Rad“. Einen ausgeprägten rebellischen Charakter, ein Aufbegehren der zartfühlenden, träumenden Persönlichkeit gegen schulische Disziplin und gesellschaftliche Normen, was später Gegenstand der Erzählung „Unterm Rad“ wurde, zeigte Hermann Hesse in seiner maulbronner Schulzeit allerdings noch nicht. Das Lernen machte ihm Spaß und besonderes Vergnügen bereitete ihm das Lesen der antiken griechischen und römischen Literatur. Aus den Briefen an seine Eltern spricht Abneigung aber auch Achtung gegenüber seinen Lehren und im Umgang mit seinen Mitschülern fühlte er sich wohl. Völlig überraschend kam es deshalb für Eltern, Freunde und Lehrer, als der 14-jährige 1892 der maulbronner Schule entfloh. Ziellos trieb der von seelischen Krisen und Depressionen geplagte Puppertierende drei Jahre umher; nirgendwo fand er Ruhe, nirgendwo Halt, nirgendwo einen Weg, den zu beschreiten dem zukünftigen Künstler sinnvoll erschien. Bei einem Freund der Eltern, dem Theologen Christoph Blumhardt, suchte er vergeblich Heilung; er versuchte seine seelischen Leiden durch Selbstmord zu beenden; nach einem Jahr brach er einen erneuten Besuch des Gymnasiums, diesmal in Cannstatt, ab und auch eine Ausbildung beim Turmuhrmacher Heinrich Perrot in Calw konnte der ruhelosen Seele keinen Halt geben. Erst 1895 trat Heilung ein, kehrte Ruhe und Regelmäßigkeit in das Leben des getrieben Hermann Hesses zurück. Er begann in Tübingen eine Lehre als Sortimentsgehilfe einer Buchhandlung. Der frühe Abbruch der Schule hatte dem jungen Mann den Weg zum Studium an einer Universität unmöglich gemacht. Während viele seiner Altersgenossen die Vorlesungsräume der tübinger Universität füllten, sich in Cafés und Gasthäusern zu geistreichen Gesprächen trafen und dem Studentenleben frönten, arbeitete Hermann Hesse tagsüber in der Buchhandlung „Heckenhauer“. In den Abendstunden, der wenigen Freizeit, die ihm zur Verfügung stand, holte der junge Mann nach, was ihm in den Jahren der Krisen- und Depressionszeit verloren gegangen war. Mehr noch: Er holte nicht nur seinen Bildungsrückstand auf, sondern legte in seinen abendlichen privaten Studien den geistigen Grundstein für sein Lebenswerk, das ihn zukünftig weit über seine Altersgenossen hinaus ragen lassen sollte. Hermann Hesse las und studierte Poesie, Literatur, Philosophie, Geschichte, Naturwissenschaften und eignete sich einen weitreichenden und umfangeichen Wissensschatz an, aus dem er Zeit seines Lebens zu schöpfen vermochte. Besonders Goethe faszinierte den jungen Mann, aber auch die Romantik, Mörike oder Novalis, interessierte ihn genauso wie die klassische antike Literatur oder die altorientalische und fernöstliche Mythenwelt. Für einen 18 bis 21-jährigen jungen Mann war das Leben, das Hermann Hesse in Tübingen führte, einsam und zurückgezogen, fast eigenprödlerisch – aber es war ein ergiebiges Leben. Hermann Hesse studierte nicht nur, er versuchte sich auch selbst im Schreiben von Gedichten und Prosa, verfasste kleinere literarische Aufsätze und Rezensionen. 1898 veröffentlichte er seinen ersten eigenen Gedichtband mit dem Titel „Romantische Lieder“ und 1899 erschien das Buch „Eine Stunde hinter Mitternacht“, eine Sammlung kurzer Prosastücke. Ganz ohne Kontakte zu Gleichaltrigen und v. a. Gleichgesinnten verbrachte Hermann Hesse seine tübinger Lehr- und Studienjahre allerdings nicht. In Otto Erich Faber, Ludwig Finckh, Carlo Hammelehle und Oskar Rupp fand er Freunde und mit ihnen schloss er sich zum literarischen Freundeskreis „petit cénacle“ zusammen. Nach Beendigung seiner Lehre zog Hermann Hesse 1899 erneut nach Basel, arbeitete als Sortimentsgehilfe in der Buchhandlung „Reich“ und später im Antiquariat „Wattenwyl“. In Basel entwickelte sich der Buchhändlerlehrling Hermann Hesse, der in seiner Freizeit eifrig las, studierte und gelegentlich eigene Gedichte, Prosastücke oder literarische Aufsätze verfasste, vollends zum Schriftsteller.

Bereits ab 1900 erschienen regelmäßig von Hermann Hesse verfasste Buchbesprechungen in deutschen und schweizerischen Zeitungen. Auch wenn Hermann Hesse in erster Linie und zu Recht als Autor von „Das Glasperlenspiels“ oder „Der Steppenwolf“ Berühmtheit erlangte, steht seine Kritikertätigkeit seinem literarischen Schaffen quantitativ in nichts nach. Nahezu dreitausend Buchbesprechungen hat Hermann Hesse bis wenige Monate vor seinem Tod geschrieben. Freilich wird der noch Angestellte einer Basler Buchhandlung zunächst für den gelegentlichen und nebenberuflichen Broterwerb geschrieben haben. Grundzüge seiner Kritikertätigkeit lassen sich jedoch von seinen ersten Veröffentlichungen an feststellen und nach und nach bildete sich der Schriftsteller Hermann Hesse sein eigenes Weltbild, seine eigene Vorstellung von der Rolle und den Aufgaben des Schriftstellers und Kritikers in der Gesellschaft. Hermann Hesse wollte mit seiner Arbeit in erster Linie erziehen, den Menschen erzählen vom völkerverbindenden, Toleranz lehrenden Charakter der Kunst aller Menschen und aller Epochen. In einer Rezension aus dem Jahre 1915 schrieb er: „Die Seele des Menschen in ihrer Heiligkeit, in ihrer Fähigkeit zu lieben, in ihrer Kraft zu leiden, in ihrer Sehnsucht nach Erlösung, die blickt uns aus jedem Gedanken, aus jeder Tat der Liebe an, bei Plato und bei Tolstoi, bei Buddha und bei Augustinus, bei Goethe und in Tausendundeiner Nacht. Daraus soll niemand schließen, Christentum und Taoismus, platonische Philosophie und Buddhismus seien nun zu vereinigen, oder es würde aus einem Zusammengießen aller durch Zeiten, Rassen, Klima, Geschichte getrennten Gedankenwelt sich eine Idealphilosophie ergeben. Der Christ sei Christ, der Chinese sei Chinese, und jeder wehre sich für seine Art zu sein und zu denken. Die Erkenntnis, dass wir alle nur getrennte Teile des ewig Einen sind, sie mach nicht einen Weg, nicht einen Umweg, nicht ein einziges Tun und Leiden auf der Welt entbehrlich. Die Erkenntnis meiner Determiniertheit macht mich ja auch nicht frei! Wohl aber macht sie mich bescheiden, macht mich duldsam, macht mich gütig; denn sie nötigt mich, die Determiniertheit jedes anderen Wesens zu ahnen, zu achten und gelten zu lassen. Ebenso dient die Erkenntnis von der über alle Erdteile weg geltenden gleichen Heiligkeit und gleichen Bestimmung der Menschenseele einem Geist, den wir für edler und weiter ansehen müssen als jedes Eingeschworensein auf eine Lehre, einem Geist der Ehrfurcht und der Liebe.“ So wurde aus dem Rezensieren zum Broterwerb mit den Jahren ein Rezensieren als Mittel der Erziehung der Menschen. Diese Zielstellung bestimmte den besonderen Charakter seiner Buchbesprechungen und macht sie bis heute zu einer reichhaltigen Fundgrube für alle Kultur- und Kunstliebhaber und zu einem Zeugnis tiefen humanistischen Denkens.

1904 gelang Hermann Hesse schließlich der literarische Durchbruch mit dem Roman „Peter Camenzind“. Das Buch erzählt im Grunde nicht mehr als die Lebensgeschichte des Schriftstellers Peter Camenzind, der aus seinem heimatlichen Dorf auszieht, um die Welt kennen zu lernen, Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Italien bereist, in Intellektuellen- und Künstlerkreisen verkehrt, Nächte in Kneipen und Gasthäusern durchzecht, Freunde gewinnt, Liebe und Enttäuschungen erlebt und der am Ende zurückkehrt in die beschauliche, geordnete Idylle seiner ländlichen Heimat. Und doch klingen bereits in „Peter Camenzind“ die Themen an, die immer wieder Gegenstand der Bücher Hermann Hesses sind. Peter Camenzind ist ein träumender Idealist, der dem Guten und Edlen entgegenstrebt und der doch nicht unberührt bleibt von der Unvollkommenheit der Welt, in der er lebt, der sich im Leben gleichermaßen bewährt und schuldig macht. Das Gegeneinander von vollkommenem Ideal und einer fehlerhaften Wirklichkeit klingt in „Peter Camenzind“ bereits an, wird jedoch aufgelöst durch die Anerkennung eines Lebens, das sowohl Gutes als auch Schlechtes beinhaltete. Zuerst muss Peter Camenzind zu Hendrik Haller werden und als Steppenwolf die Widersprüchlichkeit seiner eigenen Existenz unter Höllenqualen bis zur Unerträglichkeit durchleiden, bevor Hermann Hesse mit „Das Glasperlenspiel“ der unvollendeten Wirklichkeit eine absolute Utopie entgegenstellen wird.


von Roman Stelzig

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Kurze Biografie einer Seele - Gedanken über Hermann Hesse (Teil 2/3)

Peter Camenzind“ fand Leser und Absatz und Hermann Hesse einen Namen als Schriftsteller. Die neuen finanziellen Einkünfte gestatteten es ihm, seinen bisherigen Beruf im Buchhandel aufzugeben. Auf einer Italienreise lernte er noch im gleichen Jahr die aus einem alten italienischen Adelsgeschlecht stammende Maria Bernoulli kennen. Beide, der junge Schriftsteller und die ältere, ruhige und besonnen Frau, verliebten sich, heirateten und zogen gemeinsam in den kleinen Ort Gaienhofen am Bodensee. Hermann Hesse lebte bis 1912 mit seiner Frau in Gaienhofen. In dieser Zeit wurden den beiden drei Söhne geboren, 1905 Bruno, 1906 Heiner und 1911 Martin. Die Gaienhofener Jahre waren ausgefüllte und bewegte Jahre für Hermann Hesse. Er hielt Kontakt zu zahlreichen Schriftstellern – Ludwig Finckh und Stefan Zweig besuchten ihn –, Musikern oder Malern, unternahm Reisen nach Oberitalien und besuchte für Vorträge und Vorlesungen oder zu redaktionellen Arbeiten mehrere europäische Städte. Den Höhepunkt seiner Reiseziele in jenen Jahren bildete wohl Indien, das er im Jahre 1911 besuchte. Das Arbeitspensum, das Hermann Hesse zu absolvieren hatte, war umfangreich. Weiterhin schrieb er literarische und literaturkritische Beiträge oder Buchbesprechungen und er bemühte sich engagiert um die Neuherausgabe von Büchern von bis dahin relativ unbekannten Autoren, wie Eduard Mörike, Jean Paul, Christian Wagner oder Joseph von Eichendorf. Ungeachtet seiner familiären Verantwortungen und redaktionellen Tätigkeiten fand er auch am Bodensee Zeit zum Schreiben. 1907 erschien der Erzählungsband „Diesseits“, 1908 „Nachbarn“ und 1912 „Umwege“.

Die umfangreichste und unter jungen Lesern wohl bekannteste Arbeit, die 1906 am Bodensee entstand, ist der Roman „Unterm Rad“, die Lebens- und Leidensgeschichte von Hans Giebenrath, dem zarten, empfindsamen, verträumten Jungen mit künstlerischer Begabung. Er gerät von Eltern und der öffentlichen Meinung seines Heimatdorfes getrieben und den Hoffnungen, die man in ihn setzt, getragen in den disziplinierenden und strengen Alltag der maulbronner Klosterschule. Doch die fühlende und leidende Seele des Kindes vermag die Anforderungen, die man an sie stellt, nicht zu erfüllen, sucht Freundschaft und Liebe. Der Beginn einer Handwerkerlehre erlöst ihn schließlich kurzzeitig von seinen Leiden und lässt ihn durch das zufriedenstellende Gefühl selbst erledigter Arbeit, beim ausgelassenen Spielen und Feiern mit Dorfgemeinschaft und Freunden, beim Kosten der frühen Knospen einer sich entwickelnden Liebe für kurze Zeit das Erleben eines möglichen Glückes erahnen. Aber das zarte Kind hält den körperlichen Strapazen und moralischen Verwerfungen seiner neuen Umwelt nicht stand und gerät schließlich „unter die Räder“. Hans Giebenrath, der Fühlende, der Individualist fällt den Einflüssen seiner Umwelt zum Opfer – und Hermann Hesse ist sein Anwalt. „Meine Dichtungen“, schrieb Hermann Hesse 1954 in einem Brief, „sind alle ohne Absicht, ohne Tendenzen entstanden. Wenn ich aber nachträglich nach einem gemeinsamen Sinn in ihnen suche, so finde ich allerdings einen solchen: [sie können] alle als eine Verteidigung (zuweilen auch als Notschrei) der Persönlichkeit, des Individuums gedeutet werden. Der einzelne, einmalige Mensch mit seinen Erbschaften und Möglichkeiten, seinen Gaben und Neigungen ist ein zartes, gebrechliches Ding, er kann wohl einen Anwalt brauchen. […] Es wurde mir tausendfach bestätigt, wie gefährdet, schutzlos und angefeindet der Einzelne, der nicht Gleichgeschaltete in der Welt steht, wie sehr er des Schutzes, der Ermutigung, der Liebe bedarf.“

Die Mächte, die dem schutzlosen Einzelnen in der Geschichte oft so gefährlich gegenüber stehen, zogen, während Hermann Hesse in Gaienhofen am Bodensee lebte, bereits langsam aber beständig und drohend heran. Die Konkurrenz der europäischen Staaten um die Verteilung der Welt, der Wettlauf um den Erwerb von Kolonien, Rohstoff- und Absatzgebieten spitze sich zu, internationale Krisen und stetiges Anwachsen der Rüstungsproduktionen kündigten das drohenden Gewitter an und am 1. August 1914 brach der Erste Weltkrieg über Europa herein. Hermann Hesse lebte zu diesem Zeitpunkt mit seiner Frau in der Schweiz, in einem Landhaus in der Nähe von Bern, wohin beide 1912 gezogen waren. Hermann Hesse meldete sich, wie viele, zunächst als Freiwilliger für den Landsturm. Wegen eines Augenleidens wurde er aber für den Kriegsdienst abgelehnt und der Kriegsgefangenenfürsorge in Bern zugeteilt. Wie beim Schreiben von Rezensionen und bei seiner Arbeit als Schriftsteller, machte Hermann Hesse sich diese neue Aufgabe zur Berufung. Sein Hauptanliegen war die Versorgung deutscher Kriegsgefangener mit Literatur und auch hier wirkte der Schriftsteller als Lehrer und Erzieher im Geiste des Humanismus. Er gründete und redigierte das Kriegsgefangenenblatt „Sonntagsbote für deutsche Kriegsgefangene“; zusammen mit dem Zoologen Professor Richard Woltereck leitete er 1915 bis 1916 die Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene in Bern und die Redaktion der „Deutschen Interniertenzeitung“.

Berühmt und aufsehenerregend war der Appell, den Hermann Hesse am 3. November 1914, drei Monate nach Beginn des Ersten Weltkrieges, an die Weltöffentlichkeit, v.a. aber an die Intellektuellen, Journalisten, Schriftsteller, Kunst- und Kulturschaffenden Europas richtete. „O Freunde, nicht diese Töne“, rief er seinen Schriftstellerkollegen mahnend zu. Sein Ruf richtete sich nicht gegen den Krieg, der als unabänderliches Übel immer in der Geschichte vorhanden gewesen sei, nicht an die Soldaten in den Schützengräben, die, wenn das Schießen nun einmal notwendig wäre, treulich ihre Pflicht erfüllen sollten. Aber wenn das Schießen und Töten in der materiellen Welt schon nicht zu vermeiden sei, dann sollten doch wenigstens die geistig arbeitenden Menschen nicht in die kriegsverherrlichenden Gesänge und nationalchauvinistischen, Hass predigenden Rufe einstimmen, sondern den Gedanken bewahren, „dass Liebe höher sei als Hass, Verständnis höher als Zorn, Friede edler als Krieg.“ Es lässt sich ahnen, dass Mut dazu gehörte, solche Gedanken über die Schützengräben hinweg, welche die europäischen Staaten voneinander trennten, zu formulieren und dass sie wenig Zuhörer und Anhänger fanden. Öffentliche Anfeindungen und Vorwürfe waren der Preis, den Hermann Hesse zahlen musste, die Freundschaft zu Romain Rolland war der Lohn, den er für seinen Mut erhielt.

Nachdem sein Leben mit dem Beginn der Lehre im Buchhandel und den ersten schriftstellerischen Erfolgen relativ geradlinig und ruhig verlaufen war, erlebte die Seele Hermann Hesses 1916, noch während des Kriegs, eine zweite tiefe, persönliche Krise. Bereits in den ersten Berner Vorkriegsjahren kündigte sich an, dass ein herkömmliches Familienleben und ein Leben in der Öffentlichkeit Widersprüche verursachte zur Berufung als Schriftsteller und dem Wunsch nach zurückgezogener, geistiger Arbeit. Im Roman „Rosshalde“ verarbeitete Hermann Hesse 1913 das Problem einer gescheiterten Künstlerehe und 1915 stellte er in den „Drei Geschichten aus dem Leben Knulps“ die Frage, in welchem Verhältnis ein scheinbar untätiger Künstler zur praktisch tätigen Welt steht. Eine lebensgefährliche Krankheit des jüngsten Sohnes, der Tod seines Vaters und die psychische Erkrankung seiner Frau brachten 1916 die beginnende Krise gänzlich zum Ausbruch. Hermann Hesse suchte Hilfe in einer Luzerner Privatklinik und lernte dort den Arzt Dr. Josef Bernhard Lang kennen, von dem er sich in mehrere privaten Sitzungen behandeln ließ. Die Gespräche mit Dr. Lang gaben dem von persönlichen Schicksalsschlägen und der Erfahrung des Kriegs geplagten Schriftsteller Ruhe und Heilung – aber vor allem machten sie ihn mit der Psychoanalyse vertraut. „Lerne dich selbst kennen!“, diesen Satz, der über dem Eingang des Tempels von Delphi gestanden haben soll, könnte man als das Kredo bezeichnen, welches Hermann Hesse aus der überwundenen Krise und den Gesprächen mit Dr. Lang gezogen hat. Hermann Hesse kam zu der Auffassung, dass der Mensch nicht gegen eine ihm vorgegebene Bestimmung handeln könne, sondern diese erkennen und ihr folgen müsse, damit er mit sich selbst und seiner Umwelt im Einklang leben kann. Die Suche nach dem eigenen, durch persönliche Anlagen, Erziehung oder Erfahrungen geprägten Wesen und dessen Anerkennung bestimmten sein Denken fort an und dieses Thema machte er 1919 zum Inhalt seines Romans „Demian“. Darin erzählt Hermann Hesse, ganz ähnlich wie im Roman „Peter Camenzind“, die Lebensgeschichte des Schriftstellers Emil Sinclair. Nur endet die Geschichte diesmal nicht mit der bloßen Bejahung des eigenen Lebens mit all seinen guten und schlechten Seiten. Am Schluss des Romans erkennt Emil Sinclair mit der Hilfe seines Freundes Demian während einer traumhaften Begegnung mit dessen Mutter seine eigene Bestimmung als Schriftsteller, der er zukünftig zu folgen hat. In „Demian“ treffen beide bereits oben angedeuteten Themen aufeinander: Die Anerkennung und Bejahung der jeweils individuellen Persönlichkeit jedes Menschen und das Gegeneinander von perfektem Ideal und einer unperfekten Wirklichkeit. Auch wenn nicht davon gesprochen werden kann, dass Hermann Hesse einer geschlossenen Philosophie oder Weltanschauung anhing, lassen sich in all seinen Büchern, die völlig getrennt voneinander jeweils unterschiedliche Themen behandeln, charakteristische, philosophische Anschauungen feststellen, die sich im Laufe seines Lebens gefestigt und vertieft haben. Überall offenbart sich ein zu tiefst dialektisches Denken zusammen mit einem stark ausgeprägten philosophischen Idealismus. Fast in all seinen Romanen stellt Hermann Hesse einer sich verändernden, fehlerhaften Welt ein tatsächliches absolutes, unveränderliches Ideal entgegen. Ideal und Welt widersprechen sich zwar, können aber doch nur in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander existieren. Das Ideal muss sich in der Welt verwirklichen, um materielle Gestalt anzunehmen, und die Welt schöpft die Berechtigung ihrer Existenz nur aus der Verwirklichung des Ideals. In „Demian“ begegnet uns diese Dialektik in der Gegenüberstellung vom Schicksal und Leben des Menschen. Sein Schicksal, das von Hermann Hesse durchaus als mystische, gedankliche Kraft, als Idee von der jeweils individuellen Bestimmung des Menschen verstanden wird, muss der Mensch erkennen und ihm in seinem materiellen Leben folgen.

Hermann Hesse selbst wanderte im Jahre 1919 mit seiner Frau in die Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit des kleinen schweizerischen Dorfes Montagnola nahe Lugano im Tessin und bis ans Ende seines Lebens blieb der Ort für mehr als 40 Jahre Wahlheimat des Schriftstellers. Zunächst bewohnte er die Villa Casa Camuzzi. 1931 ließ der Freund Dr. H. C. Bodmer die Villa Casa Hesse für ihn erbauten, schenkte sie ihm und Hermann Hesse bewohnte sie bis zu seinem Tod. Nach der überwundenen Krise erlebte der Genesene im ersten Jahr seines neuen Lebens im Tessin eine reiche Schaffensperiode. Die Erzählung „Klein und Wagner“ entstand und in „Klingsors letzter Sommer“ schrieb er 1920 über einen alten Mann, der im letzten Jahr seines Lebens die Blütezeit seines Schaffens durchlebt. Aber der Schriftsteller schrieb nicht nur, ab 1920 wandte er sich der Malerei zu. Mit Staffelei und Klappstuhl ausgerüstet durchstreifte er die Wälder und Landschaften seines Wohnortes, lies sich nieder, wo es ihm gefiel, wo er Ruhe und Muße fand, und hielt die Eindrücke der Natur oder die Idylle der kleinen Schweizer Bergdörfer mit Pinsel und Farben fest. So entstanden nicht wenige Bilder aus Hermann Hesses Hand und in den Büchern „Gedichte eines Malers“ und „Wanderung“ verband er Lyrik, Prosa und Malerei zu einheitlichen Kunstwerken. Obwohl Hermann Hese in Montagnola sehr zurückgezogen, fast einsam lebte – eine feste persönliche Freundschaft verband ihn in dieser Zeit mit dem Schriftsteller Hugo Ball und dessen Frau –, trat er doch öffentlich in Erscheinung und handelte getreu seiner Anschauung von seiner eigenen gesellschaftlichen Verantwortung als Schriftsteller. 1919-1922 gab er wieder gemeinsam mit dem bewährten Freund der Kriegsjahre, Richard Woltereck, die „Deutsche Monatszeitschrift Vivos voco“ heraus; eine Zeitung, in der v. a. soziale Fragen der deutschen Nachkriegsgesellschaft behandelt wurden und deren Reinertrag der Kinderfürsorge zufloss. Hermann Hesse veröffentlichte während seiner Redaktionstätigkeit und über das Jahr 1922 hinaus in der Zeitschrift überwiegend Kulturbeiträge. Darüber hinaus unternahm er weiterhin gelegentliche Ausflüge, hielt Vorträge in anderen europäischen Städten oder unternahm Reisen. Zwei seiner Ausflüge verarbeitete er literarisch: Aus mehreren Kuraufenthalten in Baden bei Zürich entstand 1923 die Schrift „Kurgast, Aufzeichnungen von einer Badener Kur“ und die „Nürnberger Reise“ aus dem Jahre 1927 war ein Resultat einer 1925 unternommenen Vorlesungsreise durch Süddeutschland.

Während so die äußeren Ereignisse in Hermann Hesses Leben ihren Lauf nahmen, wuchs und reifte die Seele des Schriftstellers in Montagnola – und tatsächlich macht es den Eindruck, als hätte sich mit dem Umzug in das kleine Schweizer Dorf der Schwerpunkt der Entwicklung seiner Persönlichkeit von außen nach innen verlagert. Kein Wohnorts- und kein Berufswechsel, keine Veränderung in Lebensrhythmus und Tagesablauf folgten mehr, seit Hermann Hesse 1920 Montagnola zu seinem Wohnort gemacht hat. Mehr als 40 Jahre lang blieb der Ort bis zu seinem Tode Wahlheimat Hermann Hesses. Aber in dem kleinen Schweizer Ort Montagnola erlebte seine Seele ihre glücklichsten, besinnlichsten Stunden – und ihre schwersten, erschütternsten Krisen; in Montagnola durchwanderte seine Seele das himmlische Kastalien – und die Hölle des Steppenwolfes; in Montagnola entstanden die bedeutendsten Werke Hermann Hesses, Werke voller geistiger Tiefe und überströmendem weltanschaulichen Gehalt.

1922 betrat der Roman „Siddharta“ die Bühne der Weltliteratur, fast so, als sei eine durch Erziehung und den offenen Umgang des Elternhauses mit fernöstlichem, indischem Denken gesäte Saat, endlich zum Reifen und Erblühen bekommen. Neben „Das Glasperlenspiel“ ist „Siddharta“ wohl das märchenhafteste, mystischste Buch, das Hermann Hesse geschrieben hat. Anziehend und reizend entführt es den Leser in eine Gedankenwelt, die dem Uneingeweihten fremd und rätselhaft erscheinen muss, und die doch Geheimnis und Wahrheit zu enthalten scheint. Wie in seinen vorangegangenen Romanen erzählt Hermann Hesse in „Siddharta“ die Lebensgeschichte des Sohnes eines indischen Brahmanen. Siddharta verlässt als junger Mann seine Heimat und seinen Vater, um sich auf die Suche nach dem All-Einen, dem allen Erscheinungen und Dingen zugrunde Liegenden, der ewigen Wahrheit des Lebens zu machen. Während seiner lebenslangen Suche erlebt er mehrere Stadien seines Lebens, durchlebt verschiedene Lebensarten- und formen: Bei den Samanen unterwirft sich Siddharta dem strapazen- und entbehrungsreichen Leben eines Asketen, er schließt sich der Lehre Buddhas an, in Gesellschaft der Kurtisanin Kamala erlernt er die Kunst der Liebe, als Kaufmann gelangt er zu Wohlstand und Luxus, bis er schließlich beim Fährmann Vasudeva allmählich zur Einsicht kommt: „Die Welt […] ist nicht unvollkommen, oder auf einem langen Weg zur Vollkommenheit begriffen, nein, sie ist in jedem Augenblick vollkommen, alle Sünde trägt schon die Gnade in sich, alle kleinen Kinder haben schon den Greis in sich, alle Säuglinge den Tod, alle Sterbenden das ewige Leben.“ Im Fluss, den der Fährmann täglich zu überqueren hat, findet Siddharta eine Analogie zum Leben und darüber hinaus zur ganzen Welt. So wie der Fluss im ständigen Fließen begriffen ist, sich ununterbrochen verändert und doch immer ein und derselbe Fluss bleibt, so kann auch das Leben nur in seiner Gesamtheit betrachtet und niemals für den Augenblick oder einen begrenzten Lebensabschnitt beurteilt werden. Leben ist keine Entwicklung, sondern ewiger Kreislaus, in dem jeder Zeitpunkt immer als Teil des ganzen angesehen werden muss. Glück und Unglück, Alter und Jugend, Tugend und Sünde verlieren im Augenblick des Erlebten ihre Bedeutung, weil jeder Augenblick für sich nur Teil des ganzen Lebens ist, welches in seinen einzelnen Teilen sowohl das eine wie das andere enthält. Darum trägt jede Sünde schon die Gnade in sich, jedes Kind schon den Greis, jeder Säugling schon den Tod. Was für den Fluss und das Leben gilt, überträgt Siddharta auf die gesamte Welt und ihre Erscheinungen. Der Stein ist heute Stein, verfault morgen zu Erde, aus der übermorgen Pflanzen wachsen. Die Welt befindet sich im Fluss aber nicht in einer Entwicklung, sondern im ewigen Kreislauf. Der Stein ist deshalb nicht heute Stein und morgen Erde oder Pflanze, sondern als Teil des Ganzen ist er Stein, Erde, Pflanze, Mensch, Buddha und alles in einem zu gleich. Die Welt ist also in jedem unvollkommenen Augenblick vollkommen, weil der Augenblick Teil eines vollkommenen Ganzen und das vollkommene Ganze die Gesamtheit aller unvollkommenen Augenblicke ist.

Ob das Leben eines Menschen schlicht Gutes und Schlechte beinhaltet, wie man „Peter Camenzind“ verstehen kann; ob der Mensch sein in ihm verborgenes Schicksal erkennen und ihm im materiellen Leben folgen muss, wie es in „Demian“ heißt; oder ob Leben die Aneinanderreihung von unvollkommenen Augenblicken zu einem vollkommenen Ganzen ist, wie „Siddharta“ lehrt – immer ist es die Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit, Vollkommenheit im Denken und Unvollkommenheit im Sein, was Hermann Hesse zum Inhalt seiner Bücher macht. Wie in„Peter Camenzind“ und in „Demian“ erweist Hermann Hesse sich in „Siddharta“ – übersieht man einmal, dass die Welt in Siddharta nicht als sich entwickelnde, sondern statische verstanden wird – als Dialektiker, der die Widersprüchlichkeit der Welt zum Inhalt seines Denkens macht und mit jedem Buch tiefer und weltanschaulicher durchdringt.

von Roman Stelzig

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Kurze Biografie einer Seele - Gedanken über Hermann Hesse (Teil 3/3)

Aber Hermann Hesse war nicht Siddharta und die Einsichten des Siddharta brachten der Seele des Schriftstellers Hermann Hesse nicht die stoische Ruhe und heitere Gelassenheit, jeden Augenblick und jedes Ding auf Erden zu lieben und anzuerkennen als Teil eines vollkommenen Ganzen. Fünf Jahre nach dem Erscheinen von „Siddharta“ feierte Hermann Hesse 1927 im Kreise weniger Schweizer Freunde seinen fünfzigsten Geburtstag. Im gleichen Jahr erfolgte die Scheidung von seiner zweiten Frau, Ruth Wegner; sie hatte den Lebensweg des Schriftstellers seit 1924, seit der Trennung von der geisteskranken Maria Bernoulli begleitet. Die nun gefeierten 50 Jahre waren für Hermann Hesse auch ein Grund, Bilanz zu ziehen über Erreichtes und über Gewolltes. Aber, wenn es etwas gab, was Hermann Hesse zu einem einmaligen alle anderen Kollegen überragenden Schriftsteller machte, dann war es seine tiefe vollkommene Ehrlichkeit den Menschen und sich selbst gegenüber. Deshalb konnte eine Bilanz des eigenen Lebens aus der Feder Hermann Hesses keine Laudatio der eigenen Person, des aus eigener Kraft erreichten beinhalten, konnte sie keine Ruhe und Gelassenheit verbreiten; mit Notwendigkeit musste eine solche Bilanz herab führen in die unbekannten Tiefen der menschlichen Seele, aus deren tiefstem Grund den Schriftsteller nichts anderes anblickte als die grausame, blutrünstige, Schrecken verbreitende Bestie: „Der Steppenwolf“.

Protagonist des Buches ist Harry Haller, ein gebildeter und überaus begabter Mann, der wenige Jahre vor seinem fünfzigsten Geburtstag eine tiefe seelische, geistige Krise durchleidet. Als junger Mann hatte er von Idealen und Glauben getrieben das Leben eines geistig arbeitenden Menschen begonnen, sich eine hohe Bildung angeeignet und war den Gesetzen von Moral und Tugend gefolgt. Sehr bald jedoch geriet er mit seiner moralischen Lebensführung in Widerspruch zu seiner unvollkommen Umwelt; einer Welt, in der geistige Werte nicht nach ihrem ideellen Gehalt, sondern nach ihrer materiellen Verwertbarkeit gewogen werden, in der der äußerer Schein mehr gilt als das tatsächlich Sein, Worte mehr als Taten, in der Moral nur als äußere Hülle dient für eine Wirklichkeit, die in Wahrheit von Laster, Sünde und Übeln bestimmt wird. Harry Haller beginnt sich abzulösen von seiner Umwelt, führt das Leben eines individualistischen Einzelgängers, der mit zynischem Humor die Unvollkommenheit seiner Umwelt kommentiert und sich selbst als den einzigen wahrhaftigen Verfechter wirklicher Tugenden und Ideale betrachtet. Sehr bald aber bringt ihn auch diese Lebenshaltung in Widersprüche, diesmal mit sich selbst. Vor der spießigen Idylle kleinbürgerlicher Wohnungen stellt er wehmütig fest, dass der Weg zurück in die Gemeinschaft der Menschen ihm, dem Einzelgänger, für immer verwehrt bleibt, weil er die Scheinhaftigkeit ihrer Welt und ihrer Werte erkannt und einen Weg beschritten hat, der ihn von seinen Mitmenschen trennt. Von den Menschen unverstanden, ihrer Welt nicht glauben könnend bleibt er dazu verdammt seinen Weg einsam zu beschreiten, bis er entsetzt feststellen muss, dass auch er nicht den richtigen Weg gefunden hat, dass auch sein Charakter Züge aufweist, die seinen Idealen widersprechen und sein Selbstbild in Frage stellen. Während er am Tage als Mensch der Tugend folgt und nach vollkommenen geistigen Werten strebt, überfällt ihn in der Nacht die triebhafte Lust nach sinnlichen Genüssen und als Steppenwolf zieht er durch die dunklen Straße und Gassen, von Gasthaus zu Gasthaus. Er, Harry Haller ist Wolf und Mensch in einer Person, eine gespaltene Persönlichkeit, die sich einerseits zum wahrhaftigen, absoluten Ideal bekennt, sich andererseits ihrer natürlichen, menschlichen Triebe nicht zu entsagen vermag und die sich deshalb unaufhörlich in Frage stellt. Die Begegnung mit Hermine, einer androgynen jungen und verständnisvollen Prostituierten, öffnet dem alternden Mann, der die Blüte seiner Jugend lang überschritten hat, den Weg in die Welt der sinnlichen Lust. Leidenschaftliche Tänze mit Hermine und die sexuelle Vereinigung mit einer ihrer Kolleginnen, führen dem Idealisten melancholisch, fast schmerzlich vor Augen, wie hoch der Preis ist, den er für sein Bekenntnis zum geistigen Ideal bezahlen musste. Beim erneuten Zusammentreffen zwischen Harry Haller und Hermine während eines magischen Theaters am Rande eines Maskenballs endet das Buch mit der traumhaften, skurrilen Begegnung Hallers mit Mozart, der scheinbar in geisteskranker Heiterkeit alles Bestehende in einer sinnlosen Orgie von Gewalt vernichtet und zerschlägt. Weil der Eintritt in die Welt des magischen Theaters mit der Einnahme von Drogen beginnt, wurde der Schluss des Romans oft, v. a. von der amerikanischen Hippie- und Flowerpowerbewegung der 70er Jahre, als nihilistische Absage an alle Werte und Ideale gedeutet, als Freifahrtsschein und Begründung für eine ideen- und wertfreie Lebenskultur, die in purer Sinneslust und blindem Drogenkonsum ihre Erfüllung findet. Eine solche Interpretation des Buches „Der Steppenwolfes“ liegt weit entfernt vom tatsächlichen Anliegen Hermann Hesses. Was der Schriftsteller mit dem magischen Theater heraufbeschwört, ist nichts anderes als die Unsterblichkeit des geistigen Genies, dessen Vertreter hier Mozart ist. Hermann Hesse verabschiedet sich in „Der Steppenwolf“ nicht vom Idealismus, er begründet ihn und stellt einer widersprüchlichen, unvollkommenen, lasterhafte und schlechten Wirklichkeit seinen tiefen Glauben an das absolute Ideal entgegen. Die Unsterblichkeit seiner Ideen, die geistige Verbundenheit mit den Genies vergangener und zukünftiger Epochen ist der Lohn, den Harry Haller im Jenseits erhält für den Preis einer gespaltenen, qualvollen Lebensführung, des steten, zermürbenden Kampfes des Menschen um Selbstbehauptung gegen den Wolf, der in ihm schlummert. Harry Haller lebt in dem Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einer idealen und moralisch integeren Lebensführung einerseits und der Unmöglichkeit, diesem Ideal als Mensch mit natürlichen Bedürfnissen und als gesellschaftliches Wesen in einer unvollkommenen Wirklichkeit gerecht zu werden. Mit der Idee der Unsterblichkeit, deren Symbol das Genie Mozart ist, löst Hermann Hesse den Widerspruch auf seine klassische idealistische Weise.
Man muss kein Idealist sein und Hermann Hesses Schlussfolgerung nicht folgen, um den wirklichen Kern des Romans „Der Steppenwolf“ anzuerkennen. Die Gesellschaft, in der Harry Haller lebt, ist eine Waren produzierende Gesellschaft, in der alles auf dem Kopf steht und die bis in die kleinste Faser ihrer Existenz zutiefst gespalten ist. Produzierten die Menschen ursprünglich, um die Mittel für ihre Bedürfnisbefriedigung zu gewinnen, kehrt die Warenproduktion dieses Verhältnis auf den Kopf: Produktion primär für den Austausch, nur Sekundär für die Konsumtion. Der ursprüngliche Zweck der Produktion wird ihr Nebenprodukt, das Mittel – der Austausch von Waren – ihr eigentlicher Zweck. Realisieren kann der Warenverkäufer – entweder als Warenproduzent oder Verkäufer seiner Arbeitskraft – den Austausch nur in Konkurrenz zu anderen Warenverkäufern, d.h. individuell. Weil seine Ware, um ausgetauscht zu werden, aber die Bedürfnisse anderer Menschen befriedigen soll, muss seine Arbeit gleichzeitig gesellschaftliche Arbeit sein. Der Mensch einer Waren produzierenden Gesellschaft ist deshalb in sich immer gespalten: Als gesellschaftliches Wesen braucht er die Gesellschaft und seine Mitmenschen, um existieren zu können; als Warenverkäufer steht er in ständiger Konkurrenz zu seinen Mitmenschen. Diese Widersprüchlichkeit drückt sich in der gespaltenen Persönlichkeit Harry Hallers aus. Die Sehnsucht nach menschlicher Gemeinschaft, der Wunsch nach Liebe und Zärtlichkeit, seine natürlichen Bedürfnisse, Triebe und Anlagen stehen in Widerspruch zum Zwang, sich als Individuum in Konkurrenz zu andern Menschen zu behaupten, und werden deshalb als sündhaft, bekämpfenswert, unmoralisch und einer idealen Lebensweise widersprechend wahrgenommen. Die Einsicht des individuellen Idealisten, dennoch nicht entgegen seiner natürlichen Anlagen leben zu können, stürzt die gespaltene Persönlichkeit in tiefe Depressionen.
Nicht anders verhält es dich mit den Werten von Kultur und Bildung. Es ist kein Zufall, dass man sich bei den nächtlichen Streifzügen Harry Hallers, bei seiner sehnsüchtigen Rückschau auf eine geordneter, gutbürgerliche Lebensweise und seiner bitteren Einsicht, dass Werte und Inhalte humanistischen Denkens in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unverwirklicht bleiben, erinnert fühlt an – Faust. Alles Studium der verschiedenen Wissenschaften, selbst der Theologie, hatte auch diesen nicht zur Antwort auf die Frage geführt, was die Welt im innersten zusammenhält. Aber Faust befand sich erst am Anfang seiner Reise, Harry Haller befindet sich an ihrem Ende. Der Goethesche Faust war der künstlerische Ausdruck einer bürgerlichen Gesellschaft, die noch im Entstehen begriffen war und danach strebte, die alte mittelalterlich, feudale Ordnung abzulösen und zur wirtschaftlichen und politischen Herrschaft aufzusteigen. Ihr Symbol waren die Schiffe auf einem Gemälde Caspar David Friedrichs, die sogar in der Ruhe der Nacht betriebsam ausliefen, den Hafen verließen, um ihren Geschäften und Handelstätigkeiten nachzugehen. Der ständige Entwicklung neuer Produktionsweisen und Produktionstechniken war und ist Existenzbedingung der bürgerlichen Gesellschaft; die Fortführung der Wissenschaften, die unaufhaltsame Entdeckung der Welt und der Natur war ihr Schlachtruf und ihre stärkste Waffe. Der tätige Mensch stand im Mittelpunkt ihres Denkens, dessen Prototyp kein andere als Faust gewesen ist, der selbst den Bund mit dem Teufel nicht scheute, allen Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen und der für diesen Frevel schließlich rehabilitiert wurde, weil er unaufhaltsam seinem Ziele entgegen Schritt, dem Augeblicke niemals entgegnend: „Verweile doch, du bist so schön.“ Aber die bürgerliche Gesellschaft erfüllte nicht, was sie versprach: An die Stelle politischer Gleichheit setzte sie die ökonomische Ungerechtigkeit, die massenhafte Verelendung der Arbeiter in den Städten; anstatt Kultur und Bildung zu ehren, unterwarf sie alle menschlichen, humanistischen Ideale und Werte ihrem Diktat der ökonomischen Verwertbarkeit, als Kunst gilt, was verkäuflich, was Nachfrage bewirkt, was massenhaft Zuspruch findet; anstelle des Reiches der Freiheit setzte sie die grausame ökonomische Konkurrenz aller gegen aller, die sich mit dem Ersten Weltkrieg zur industriellen Barbarei steigerte und Menschen millionenfach abschlachtete. So vergaß und verriet sie schließlich ihren Faust, der alleingelassen als Harry Haller die Straßen durchstreifte und seine Ideale vergeblich suchte.
Hermann Hesse rettete und erlöste seinen Harry Haller, indem er ihn schließlich, dem Faust gleich, in das himmlische Reich der Unsterblichkeit erhob – und der Schriftsteller rettete damit seine eigene Seele.
So sehr „Der Steppenwolf“ den Leser hinab führt in die Zerrissenheit der eigenen Seele, so sehr er den gesunden Geist krank zu machen scheint, zu infizieren mit dem Gift Unheil und Unruhe bringender Gedanken – einige Menschen fielen dieser Wirkung zum Opfer. Der Briefwechsel Hermann Hesses kennt Beispiele heftiger Anklagen von Eltern, deren Kinder nach der Lektüre des Romans den Freitod suchten – „Der Steppenwolf“ ist, wenn man die Sorgfalt aufbringt, ihn „wirklich zu lesen und zu verstehen […] nicht die Geschichte eines Unterganges […], sondern die einer Krise und Heilung […]“. Und tatsächlich erscheint das Buch im Gesamtwerk Hermann Hesses wie eine Zäsur. Alle vorangegangenen Bücher, „Peter Camenzind“, „Unterm Rad“, „Demian“, „Siddharta“ näherten sich auf unterschiedliche Weise den großen Themen, die Hermann Hesse Zeit seines Lebens künstlerisch verarbeitete: Die Gegenüberstellung von fehlerhafter Wirklichkeit und vollkommenem Ideal und der Platz der individuellen Persönlichkeit darin. In „Der Steppenwolf“ kulminieren diesen Themenstränge zur völligen Zerrissenheit des einzelnen Menschen und über einen qualvollen Weg der Selbsterkenntnis löst Hermann Hesse den Widerspruch, indem er an die Stelle des Suchens und Fragens Antworten stellte. Hermann Hesse überwand mit „Der Steppenwolf“ seine eigene Zerrissenheit und kam zu einer Weltanschauung – und aus den Tiefen seiner Seele leuchtete bereits von Ferne „Das Glasperlenspiel“ herauf.
Zuvor ließ Hermann Hesse dem Roman „Der Steppenwolf“ aber 1930 „Narziss und Goldmund“ folgen, fast so als wäre es ihm wie seinem Goldmund gegangen, der, nachdem er ein Kunstwerk beendet hatte, „in die nackte leere Werkstatt zurück [kehrte], betrübt über alles das, was in meinem Werk mir nicht gelungen ist und was ihr andern gar nicht sehen könnt.“
Äußerlich handelt die Geschichte von Narziss und Goldmund von der Freundschaft zwischen dem philosophisch, rationell veranlagten Narziss und dem begabten, künstlerisch fühlenden Goldmund. Beide lernen einander als junge Mitglieder der Klosterschule Mariabronn kennen und auf freundschaftliche Weise lieben. Nicht zuletzt auf Betreiben Narziss’, der die tiefe Veranlagung zu sinnlich gefühlvoller Wahrnehmung und Abneigung gegen abstrakt philosophisches Denken seines Freundes früh erkennt, verlässt Goldmund die Klosterschule und begibt sich auf Wanderschaft. Auf seiner Reise lernt er die Liebe kennen, körperliche Lust, Schuld, Krieg, Pest und Tod; er saugt Eindrücke und Gefühle in sich auf. Nach vielen Jahren führt ihn sein Weg zurück in die Klosterschule Mariabronn, zurück in die Begleitung seines Freundes Narziss. Hier nun schließt sich der Kreis des Leben des alternden Goldmund, hier erfüllt sich der Sinn seines ganzen Lebens: Er schafft Kunstwerke. Im zweiten Teil des Buches offenbart sich vielleicht am besten die tiefe Dialektik, die dem Denken Hermann Hesses innewohnte. Die Kunstwerke, die Goldmund in Mariabronn schafft, bestechen durch ihre besondere Lebendigkeit. Sie sind keine hölzernen Figuren, sondern scheinbar lebendige Wesen, in deren Gesichtszügen, Mimiken und Gesten der Betrachter tiefe Gefühle entdeckt, Lieben, Hoffnung, Schmerzen oder Enttäuschungen. Goldmund schöpft bei seiner Arbeit aus seinem reichhaltigen, erfahrungsreichen Leben. Die Gesichtszüge jeder Frau, der er das Herz gebrochen hat, alles Leiden und alles Elend, das ihm auf seinen Wanderungen begegnet ist, verarbeitet er in seinen Figuren und aus dem Schmerz der den gekreuzigten Sohn beweinenden Mutter liest und fühlt der Betrachter das tiefe Leiden des ganzen Menschheitsgeschlechtes einer Epoche. Mittels des handwerklichen Könnens, das er sich in verschiedenen Lehren angeeignet hat, und durch die Verarbeitung des selbst Erlebten schafft Goldmund wirkliche, ewige Kunstwerke. Erst die Erfahrungen seines Lebens, die nackte Berührung mit der wirklichen Welt, die eigene Schuld und Lasterhaftigkeit befähigen Goldmund zu wahrhaftem Künstlertum – aber erst das geschaffene Kunstwerk gibt diesem Leben Sinn und Inhalt, verschafft ihm Legitimation. So bedingen die Berührung mit der unvollkommene Wirklichkeit und das Streben nach wahrhafter, absoluter Kunst einander, sind beide untrennbar im Künstler vereint. Goldmund ist ein Waisenkind, er kennt seine Mutter nicht und wurde von seinem Onkel im Kloster Mariabronn abgegeben. Zeit seines Lebens verfolgt ihn die Erinnerung und der Gedanke an seine Mutter. Immer wieder begegnet sie ihm im Traum und stets sucht er danach, ihr Abbild in einem Kunstwerk zu formen. Erst kurz vor seinem Tod erscheint ihm das Bild seiner Mutter vollständig, er glaubt es zu erkennen, es fassen und formen zu können, bringt aber nicht mehr die körperliche Kraft dazu auf. Das absolute Kunstwerk, die absolute, vollendete Idee der Kunst bleibt unerreichbares Ziel seines Künstlerlebens. Unverkennbar bedient Hermann Hesse sich in „Narziss und Goldmund“ aristotelischer und platonischer Philosophie. „Es ist ein philosophischer Begriff“, erklärt Narziss dem Freunde, „ich kann es nicht anders ausdrücken. Für uns Schüler des Aristoteles und des heiligen Thomas ist der höchste aller Begriffe: das vollkommene Sein. Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist ganz und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich, wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt sich verwirklichen.“ Im Bild der Mutter verkörpert sich für Goldmund das vollkommene Sein, das vollkommene Kunstwerk. Dies zu gestalten vermag der Künstler nicht. Und so besteht sein Leben daraus, ihm nachzueifern, dem vollkommenen Kunstwerk materielle Gestalt zu verleihen. Bedienen kann er sich dabei aber nur der Gegenstände und Erscheinungen der materiellen, unvollkommenen Welt. Der Künstler bildet so das Bindeglied zwischen unvollkommener Wirklichkeit, deren Erscheinungen er sich bedient, und vollkommenem Sein, das zu gestalten er in seinem Kunstwerk versucht. Zum Verständnis der Gedankenwelt Hermann Hesses darf keiner der beiden Gegenpole außer Acht gelassen werden. Hermann Hesse ist zu wahrhaftig und zu ehrlich, um der Welt eine platte, undialektische Moral entgegenzuhalten und doch zu sehr Idealist, um dem Glauben an absolute und vollkommene Ideale abzuschwören. Goldmund ist kein Gutmensch. Er hat sich schuldig gemacht an den Menschen, er ist selbst voller Laster. Das ist notwendig, ihn zum Künstler zu befähigen. Aber erst der Schritt von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, zum geschaffenen Kunstwerk gibt seinem Leben Sinn und Inhalt.
Die Geschichte der Seele des Schriftstellers erreichte nun den Zeitpunkt ihrer Vollendung, des eigenen Schrittes von der Potenz zur Tat. 1931-1943 arbeitete Hermann Hesse an „Das Glasperlenspiel“, seinem umfassendsten und bedeutendsten Werk. Äußerlich beschreibt dieses zweibändige Buch die Lebensgeschichte des „Magister ludi“ Joseph Knecht; seinem Wesen und Inhalt nach ist es der Versuch einer Utopie, die künstlerische Gestaltung einer vollkommenen Gesellschaft, in der Kunst und Wissenschaft zur einer Einheit verschmelzen und aus reinem Selbstzweck betrieben werden, ohne materiellen Gewinn und Absicht. Das fiktive und in ferner Zukunft liegende Kastalien ist der Name für einen geistigen Orden, eine abgeschlossene Gelehrtengemeinschaft. Beziehungen und Verbindungen zur anderen, wirklichen Welt bestehen in der Versorgung des Ordens mit Lebensmitteln und anderen Gütern des Bedarf; ansonsten führen die Mitglieder des Ordens ein abgeschiedenes Leben im Kreise ihrer Gemeinschaft. Aus den weltlichen Schulen wählen sich die Ordensmitglieder besonders begabte und talentierte Schüler und bilden sie aus, damit diese einst selbst Mitglieder der Ordensgemeinschaft werden. Im spielen des Glasperlenspiels drückt sich die Idee aus, die hinter der Ordensgemeinschaft Kastaliens steht: Die völlige Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft; Anwendung logischer Gesetze oder mathematischer Algorithmen in Verbindung mit spielerischen Melodien. Hermann Hesse beschreibt das Glasperlenspiel bewusst abstrakt und verschwommen, kaum konkret und fasslich. Das Glasperlenspiel lässt sich letztlich nicht in Worten ausdrücken, weil es eben schon nicht mehr Teil dieser Welt ist. Letztlich ist das Glasperlenspiel die Verkörperung des vollkommenen Seins, Kastalien sein Bindungsglied zur wirklichen, unvollkommenen Welt. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland, nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und der Krisen der Weimarer Republik schuf Hermann Hesse mit „Das Glasperlenspiel“ die reifste Frucht seines Lebens. Der Schriftsteller Hermann Hesse erreichte damit das, was er seinem selbst geschaffenen Harry Haller in „Der Steppenwolf“ versprochen hatte: Die Unsterblichkeit – zumindest in kunsthistorischer Hinsicht.

Nach Beendigung und Veröffentlichung des Romans „Das Glasperlenspiel“ verfasste Hermann Hesse kein umfangreicheres Werk mehr. Während des Nationalsozialismus nutzte er seine besondere Weise des Rezensieren, um auf Bücher aufmerksam zu machen, die dem in Deutschland herrschenden Geist entgegenstanden, Bücher von Juden, Katholiken und Bekennern anderer Glaubensrichtungen. Die Villa Casa Hesse, in der er lebte und arbeitete, war Zufluchtsstätte zahlreicher Exilschriftsteller aus Deutschland, u.a. Bertolt Brechts oder Thomas Manns. Nach 1945 wurde Hermann Hesse mit Ehrentitel und Auszeichnungen dekoriert. Im September 1945 erhielt er den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt, im November 1946 den Nobelpreis für Literatur, 1947 die Ehrendoktorwürde der Universität Bern, 1950 den Wilhelm-Raabe-Preis der Universität Braunschweig, 1955 den Orden „Pour le Mérite“ und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In der Hauptsache widmete sich Hermann Hesse in den letzten 20 Jahren seines Lebens der Beantwortung von Briefen, die ihm aus allen Teilen der Welt von verschiedenen Menschen zugesandt worden, Menschen, die seine Bücher gelesen hatten und die den Schriftsteller – vielleicht den einzigen Menschen, von dem sie sich wirklich verstanden fühlten – um Rat und Hilfe baten. Getreu seiner Auffassung vom Individuum, vom Wert jeder einzelnen, verwundbaren Seele nahm Hermann Hesse diese Aufgabe sehr ernst und beantwortete die meisten der Briefe persönlich. Die dabei entstandene und 1951 zum ersten Mal veröffentliche Briefsammlung Hermann Hesses stellt neben seinen Werken, Aufsätzen und Rezensionen eine weitere Quelle zum Verständnis der Gedanken- und Ideenwelt Hermann Hesses dar. Am Morgen des 9. August 1962 verstarb Hermann Hesse im Alter von 85 Jahren infolge einer Gehirnblutung im Schlaf. Er litt, ohne es zu wissen, bereits seit mehreren Jahren an Leukämie.

von Roman Stelzig

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Donnerstag, 10. Dezember 2009

Linke Narbe

Heute früh entwertet der Revolutionär
das Ticket in der Straßenbahn
wie das Parteibuch.
die Uhr schießt die Sekunden los wie ein Revolver.
nicht für die goldenen Taler
auf dem Hemd
wurde er durch die Liebe zur Freiheit verwundet.
die Revolution
ist vollbracht!
er hört aber in diesem Wort nur
das Gebrüll der Straßen.
die Straßenbahn verwischt die Spur
durch die Stadt, die mit erschossenem
Laub übersät ist.
ihm scheint,
dass die Welt um ihn herum einem Fahrrad ähnelt -
aus Ketten, Rädern, Lenkräder geschmiedet...
und den gekühlten Lauf
mit den Zähnen zusammengepresst, der Revolutionär
trinkt.

von Sergej Tenjatnikow

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Berliner Mauer

die Indianer werden mit jeder Nacht
weniger. sie sterben schlechten Wetters und Wodkas wegen aus.
bist du in der Reservation, in Ost-Berlin,
schreibst du in ein angelaufenes Fenster wie in das
Notizbuch der Geschichte -

ein Baukran steht in einer Drittel Umdrehung zu dir
eine Betonplatte haltend wie die Freiheitsstatue die
Unabhängigkeit. Rothäute erleiden langsam aber
sicher letzte Ehren- und Rechtsminderungen auf Gras und
billiges Bier. es kursieren Gerüchte, dass im Tal erloschener
Wolkenkratzer grünes Gold gefunden wurde, und Cowboys
besiedeln es bald mit ihren Kühen.
du gehst die Straße entlang wie das ausgetrockene Flussbett,
siehst nicht weiter als deine eigene Stimme reicht - stummlings.
und Blätter fliegen den Bäumen davon wie Schuppen
den toten Fischen. die Zeiger der Zeit auf dem roten
Rathaus erstarren wie Insekten im Bernstein.
es ist zum weinen nahe. es schmerzt. und du nimmst dir das Baseballcap
wie den Skalp vom Kopf ab.

von Sergej Tenjatnikow

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