Dienstag, 27. Oktober 2009

Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Sewastopoler Erzählungen

Über der Bucht von Sewastopol wird es Morgen. Die Sonne steigt über dem Hafen auf und beleuchtet mit orangenem Licht die vom Krieg noch verschonten fürstlichen Palais und die Mauern der Hafenfestung. Auf den Schützengräben der russischen und französischen Stellungen rund um den südlichen Stadtrand Sewastopols wehen weiße Fahnen. Der französische Angriff der vergangenen Nacht wurde von den Verteidigern der Stadt zurück geschlagen. Erschöpfung und Ermüdung auf beiden Seiten zwingen die verfeindeten Armeen zu einem vorübergehenden Waffenstillstand. Nur die Verwundeten in den Lazaretten, ihr Ächzen und Stöhnen, die Berge ihrer amputierten Arme und Beine, die Toten, die von den Arbeitern eilig weggetragen werden, die zerstörten Gewehre, Geschütze, Munition, Schutt und Geröll, die überall herum liegen, sind Zeugen der blutigen Ereignisse der vergangenen Nacht. Aus den Schützengräben der russischen und französischen Stellungen klettern die müden Soldaten hervor, um den Morgen über Sewastopol zu erleben. „Hören wir, worüber diese Menschen miteinander sprechen.


Ein kecker Infanterist in rosa Hemd und über die Schultern geworfenem Mantel tritt in Begleitung anderer Soldaten, die sich, die Hände auf dem Rücken, mit fröhlichen, neugierigen Blicken hinter ihm halten, auf einen Franzosen zu und bittet ihn um Feuer für seine Pfeife. Der Franzose facht seine Pfeife an, stochert in ihr herum und schüttet etwas Glut in die Pfeife des Russen.
'Tabak bong', sagt der Soldat im rosa Hemd, und die Zuschauer lächeln.
'Qui, bon tabac, tabac turk', sagt der Franzose.
'Et chez vous tabac russe? Bon?'
'Russ bong', sagt der Soldat im rosa Hemd und die Anwesenden schütteln sich vor Lachen. 'Frangs nicht bong, bongschur, mussjöh', sagt der Soldat im rosa Hemd, auf einmal sein ganzes französisches Vokabular hervorsprudelnd, und klopft dem Franzosen lachend auf den Bauch. Auch die Franzosen lachen.
'Hübsch sind sie nicht, diese ungehobelten Russen.', sagt ein Zuave aus der Menge der Franzosen.
'Worüber lachen sie denn?', fragt ein anderer Schwarzer mit italienischer Aussprache und kommt auf unseren Soldaten zu.
'Kaftan bong', sagt der kecke Soldat, während er sich die bestickten Rockschöße des Zuave ansieht. Und wieder gibt es Gelächter.
'Nicht über die Linien gehen, an eure Plätze, verdammt.', ruft ein französischer Korporal, und die Soldaten gehen mit sichtlichem Widerstreben auseinander.“
Es ist Mai in Sewastopol und es herrscht Krieg. Das Osmanische Reich, dessen Stärke und Macht in den vergangenen Jahrhunderten von den europäischen Großmächten gefürchtet wurde, liegt in Agonie. Seine Ausdehnung ist immer noch groß aber die Macht seiner Zentralgewalt ist eingeschränkt, die Provinzen und Kolonien suchen die Unabhängigkeit, ökonomisch und militärisch ist das riesige Land geschwächt. Innerhalb seiner Grenzen liegen die Schätze und Rohstoffe des Orients, die Häfen des Schwarzen Meeres und der Zugang nach Asien. Nach ihrem Besitz trachten die europäischen Staaten und stoßen dabei beständig in Konkurrenz aufeinander. Um seine Einfluss im Orient zu vertiefen und das Territorium des russischen Reiches auszudehnen, verlangt Zar Nikolaus I. im Februar 1853 vom osmanischen Sultan, er solle alle Untertanen, die dem orthodoxen Glauben angehören, russischer Schutzherrschaft unterstellen. Nachdem der Sultan sich weigert, dieser Forderung nachzukommen, überschreiten russische Truppen den Pruth und besetzen im Juli 1853 die Balkanregionen Moldau und Walachei. Von der russischen Expansion fühlen sich die europäischen Staaten, allen voran Frankreich und Großbritannien, bedroht und in ihren eigenen Expansionswünschen eingeschränkt. Auch sie trachten auf unterschiedliche Weise nach den Schätzen des Orient. Die militärische Schwäche des Osmanischen Reiches veranlasst sie zum Einschreiten in den russisch-türkischen Konflikt und im März 1854 erklären Frankreich und Großbritannien Russland den Krieg. Dieser Krieg dauert an bis 1856 und wird in der Geschichte nach dem Ort benannt, an welchem die meisten Kämpfe stattfinden: Der Krimkrieg 1853 – 1856.

Auf dem südwestlichen Zipfel der Halbinsel Krim befindet sich die Hafenstadt Sewastopol. Ihre nördlichen Hafenanlagen sind durch Festungsanlagen geschützt vor Angriffen zur See, die südliche Flanke weitgehend ungeschützt vor Angriffen vom Land. Die russische Flotte ist Schwach, ihre Segelschiffe den dampfbetriebenen Kriegsschiffen der britischen und französischen Flotte weit unterlegen. Im September 1854 gelingt der französisch-britisch-türkischen Armee die Landung auf der Krim. Die russischen Admirale W. A. Kornilow und P. S. Nachimow lassen einen Teil der russischen Schwarzmeerflotte in der sewastopoler Bucht versenken, um der feindlichen Flotte den Zugang zum Hafen zu versperren. Die Matrosen werden zur Verteidigung der Stadt hinzugezogen, Schützengräben und Befestigungsanlagen im Süden eilig ausgehoben und die Stadt auf die Belagerung vorbereitet. 349 Tage dauert die Belagerung Sewastopols. Die Eroberung der Stadt im September 1855 entscheidet den Krimkrieg zugunsten der antirussischen Koalition. Der Frieden von Paris am 30. März 1856 beendet den Krimkrieg. Russland erhält die von der Koalition eroberten Städte zurück, muss aber gleichzeitig seine türkischen Eroberungen zurückgeben. Moldau und die Walachei werden zum Protektorat der europäischen Großmächte unter formalem Verbleib im Osmanischen Reich. Der Einfluss Russlands und des Osmanischen Reiches auf das schwarze Meer wird erheblich eingeschränkt.

Der Krimkrieg ist ein Krieg, der im Scheidepunkt zwischen der alten Kriegsführung des europäischen Absolutismus und dem modernen Krieg des heraufbrechenden 20. Jahrhundert steht. Er ist noch ein Krieg, der von kurzfristigen Eroberungen und Stellungswechseln der Armeen bestimmt wird; er ist noch ein Kabinettskrieg, der hinter verschlossenen Türen in den Regierungskabinetten der europäischen Staaten beschlossen und geplant und der lokal begrenzt geführt wird. Aber in seiner Kriegsführung zeigen sich bereits die Auswirkungen der modernen Industrie. In den mächtigen Kanonen, in der Schnelligkeit der Gewehre, in der Belagerung Sewastopols, dem Leben der Soldaten in den Schützengräben und im massenhaften Verbrauch von Material und Menschenleben schimmert bereits ein Teil von dem hervor, das die Schrecken von der Marne und von Verdun hervor bringen wird.

Inmitten der Belegarung Sewastopols befindet sich im April 1855 auch der junge russische Schriftsteller Graf Lew Nikolajewitsch Tostoi. Bereits vor und während seiner freiwilligen Dienstzeit in der russischen Kaukasus- und später Donauarmee versucht Tolstoi sich im Schreiben, verarbeitet die Erlebnisse seiner Kindheit und im Kaukasus auf literarische Weise. In den Jahren 1855 und 1856 erscheinen in der literarischen Zeitschrift „Sowremnik“ die drei Erzählungen „Sewastopol im Dezember“, „Sewastopol im Mai“ und „Sewastopol im August 1855“, die zusammen die Sewastopoler Erzählungen ergeben. Bereits seine Zeitgenossen überrascht und beeindruckt Tolstoi durch seine ungeschminkte, realistische Schreibweise. Zwar drücken sich in den Sewastopoler Erzählungen die Liebe zur seiner russischen Heimat aus und die persönliche Hochachtung vor den Verteidigern Sewastopols, nicht so sehr vor dem adligen Offizierskorb, sondern viel mehr vor dem stillen Heldentum der einfachen Soldaten. Aber seine Schreibweise ist frei von Pathos, überzogenem Patriotismus und moralisierender Betrachtung; frei von Wertungen und Vorurteilen beschreibt Tolstoi in den Sewastopoler Erzählungen Ereignisse der Belagerung der Stadt; und er erzählt, wie sich Menschen im Krieg verhalten. Die erste Erzählung „Sewastopol im Dezember“ ist noch im Stil einer Reportage verfasst, in der Tolstoi den Leser auf wenigen Seiten durch die wichtigsten Orte der Stadt führt und von deren Eigentümlichkeiten und Besonderheiten berichtet. In den Erzählungen „Sewastopol im Mai“ und „Sewastopol im August 1855“ tritt aber bereits die Meisterschaft des Schriftstellers Tolstoi hervor, Menschen mit ihrem Erscheinungsbild, ihrem Auftreten, ihrer Sprache und ihrem Charakter sprachlich zu zeichnen. Tolstoi dringt in die feinsten Nuancen des Charakters seiner Protakonisten – Adlige, Offiziere, einfache Soldaten – ein, beschreibt ihr Handeln und offenbart dem Leser ihre stille Furcht vor dem Tod, ihre Liebe zur Heimat, ihre Träume vom Ruhm, ihre weltfremde Naivität, ihre ergriffene Anteilnahme oder ihre teilnahmslose Geduld. Man findet in den Sewastopoler Erzählungen keine Helden und der Schriftsteller stellt selbst die Frage: „Wo ist in meiner Erzählung das Böse dargestellt, das abschreckend wirken soll? Wo das Gute, das zur Nacheiferung anspornen könnte? Wer ist in ihr der Bösewicht, wer der Held? Alle sind gut, und alle sind schlecht. […] Der Held meiner Erzählungen, den ich mit allen Fibern meiner Seele liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit nachzubilden trachte und der immer schön war, schön ist und schön bleiben wird, das ist – die Wahrheit.“

Die Sewastopoler Erzählungen beschreiben anschaulich und nachvollziehbar Geschichte, sind ein frühes Zeugnis der literarischen Meisterschaft Lew Nikolajetisch Tolstois und regen, ohne zu belehren, zum nachdenken an über den Platz des einzelnen Menschen in der Geschichte und über Sinn und Unsinn von Kriegen.
von Roman Stelzig

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