Freitag, 19. März 2010

Einer trage des anderen Last

Antagonistische Widersprüche begegnen sich im Jahre 1950 in einem privaten Sanatorium für Lungenkranke in der noch jungen Deutschen Demokratischen Republik.
Der junge Joseph Heiliger ist Volkspolizist, glühender Anhänger des Marxismus und Mitglied der SED. Während seines Dienstes an den Grenzen der DDR erlebte er den Tod eines Kameraden, anschaulicher Beweis für ihn, dass der junge Staat der Arbeiter und Bauern, dessen Aufbau und Verteidigung er sich verschrieben hat, Feinde besitzt. Über seinem Bett hängt ein Bild Stalins und in den Stunden vor dem Einschlafen studiert er das Kommunistische Manifest und die Werke Lenins.
Der etwas gleichaltrige Hubertus Koschenz ist evangelischer Vikar und überzeugter Anhänger des christlich-evangelischen Glaubens. Sein Vater ist 1946 nach einem Besuch auf der Kommandantur der Sowjetischen Militäradministration spurlos verschwunden, seine Mutter lebt von 90 Mark Rente, anschauliche Beweise für ihn, dass auch im jungen Staat der Arbeiter und Bauern die Freiheit des Glaubens noch mehr Ideal als Wirklichkeit ist. Über seinem Bett hängt ein Bild Jesus Christus’ und in den Stunden vor dem Einschlafen studiert er die Bibel.
Beide Menschen sind vor eine ungewöhnliche Situation gestellt: Sie leiden an lebensbedrohlicher Lungentuberkulose und sind Zimmernachbarn in einem Sanatoriums, in dem die Zeit still gestanden zu sein scheint. Ihre weltanschaulichen Differenzen bestimmen schon bald ihr Zusammenleben und den Alltag im Sanatorium. Während Joseph Heiliger die Genossen des Sanatoriums zu Parteiversammlungen ruft, führt Hubertus Koschenz Bibelstunden durch und die idyllische Ruhe des Sanatoriums wird beim morgendlichen Rasieren durchbrochen vom antagonistischen Duett der Internationale und des Liedes „Eine feste Burg ist unser Gott.“ Ausgerechnet der Chefarzt des Sanatoriums und das ehemalige Mitglied der NSDAP, das für seine Arbeit im Sanatorium jeder Partei – „auch Ihrer, Herr Heiliger“ - beitreten würde, bringt das anliegen des Filmes auf den Punkt: „Draußen im Leben können Sie auch keinen Bogen umeinander machen. Sie müssen miteinander auskommen. Und wenn Sie das nicht können, dann taugt Ihr Sozialismus genauso wenig wir Ihr Christentum. Wir leben nämlich auf einer Erde. Und wenn zwei junge, intelligente Männer mit verschiedenen Weltanschauungen nicht einmal um den Preis ihrer Gesundheit, um den Preis ihres Lebens für ein paar Monate wie zivilisierte Menschen miteinander umgehen können, dann sieht’s verdammt beschissen aus um die Menschheit!“
Aber das Miteinander zweier Weltanschauungen lässt sich nicht mit moralischen Appellen herstellen, es muss sich im Alltag an konkreten Fragen unter Beweis stellen. Eine religiöse Haltung, die der Befriedigung materieller Bedürfnisse entsagt, untergräbt in den Augen Joseph Heiligers den sozialistischen Aufbau und leistet allen Drückebergern und Schiebern Vorschub in einer Situation, die mehr als alles andere den materiellen Wiederaufbau eines Landes erfordert. Und das christliche Gedenken aller derer, die in Gefangenschaft leben, würde gehört und verstanden werden von denen, die zu unrecht, aber auch von denen, die zurecht inhaftiert sind. Dem gegenüber steht die alltägliche Erfahrung Hubertus Koschenz', dass die Freiheit des Glaubens für den einzelnen Menschen auch mit strikter Trennung von Kirche und Staat nicht immer geachtet und von einer materialistischen Weltanschauung bisweilen Feindschaft und Intoleranz gegenüber Religionen ausgeübt wird.
Dennoch lehrt das alltägliche Leben die beiden jungen Menschen, dass über ihre ideellen Widersprüche hinweg Gemeinsamkeiten zwischen ihnen bestehen, und aus weltanschaulichen Feinden werden Freunde, die einander achten und beistehen. Der ruhigere und vernünftigere evangelische Vikar Hubertus Koschenz bringt zum Ausdruck, was Christentum und Marxismus vom christlichen Standpunkt miteinander vereinen kann: „Eine Kirche, die ihren göttlichen Auftrag ernst nimmt, wird Leute, die soziale Gerechtigkeit herzustellen versuchen, nicht verdammen, sondern als Gottes Werkzeug ansehen, seien sie nun gottlos oder fromm.“
Die Konfrontation mit dem Tod bringt beiden Menschen endlich die Gegensätze aber auch die unterschiedlichen Stärken und Schwächen ihres Denkens einander auf schmerzhaft aber hoffnungsvolle Weise nahe. „Konzentrationslager, Vergasung von Juden, die Folterungen, die Verstümmelungen, die Verbrennungen, die nicht zu zählenden Ungerechtigkeiten dieser Welt – Wenn es ihn wirklich geben würde, deinen Gott, Millionen Hände würden sich finden, ihn in Stücke zu reißen. Es gibt keinen Gott! Das ist die einzig logische Variante, mit all der Sinnlosigkeit fertig zu werden.“, klagt Joseph Heiliger seinem Freund. Aber als er der christlichen Opferbereitschaft seines Freundes im Angesicht des Todes gewahr wird, entgegnet Hubertus Koschenz ihm, dass Sterben für einen Christen anders sei als für einen Materialisten. „Sterben ohne Hoffnung, ohne Glauben? Die letzte Stunde muss für einen von euch die Hölle sein.“
In seinem charmanten und durchdachten filmischen Plädoyer für die Toleranz, das 1988 in der DDR erschienen ist, löst der Regisseur Lothar Warneke den Grundwiderspruch zwischen Marxismus und Christentum auf dialektische Weise mit der Freundschaft zweier junger Menschen, die nach dem Grundsatz leben: „Darum lasset uns dem nachstreben, was zum Frieden dient“ – jeder auf seine Weise und einer trage des anderen Last.


von Roman Stelzig

7 Kommentare:

  1. Ich stimme dem Autor des Artikels voll zu.
    Der Film von Lothar Warneke ist ein überzeugender Aufruf zu Toleranz und Menschlichkeit. Er macht deutlich, dass es letztendlich egal ist, ob ein Mensch seine humanistischen Lebensauffassungen und -ziele aus einer materialistischen Weltanschauung, dem christlichen Glauben oder einem anderen religiösen Bekenntnis schöpft. Wichtig ist, dass jeder Mensch diese humanistischen Ideale hat und danach handelt.
    Sowohl von seiner Aussage her, als auch von der Darstellung gehört der Film m.E. zu den reifsten und besten Leistungen der DEFA.
    Schade, dass solche Filme bei der Fülle von Gewalt verherrlichenden amerikanischen Filmen im Fernsehen keine chance mehr haben.
    Eine treue Leserin der "Windmühle" aus Dresden

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  2. Meine Vorrednerin schrieb:

    "Schade, dass solche Filme bei der Fülle von Gewalt verherrlichenden amerikanischen Filmen im Fernsehen keine chance mehr haben."

    Dass Filme oder überhaupt irgendwelche medialen Beiträge heutzutage keine Chance hätten, sehe ich so nicht! Jeder kann heute alles immer überall verfügbar machen (außer vielleicht für Rezepienten in China oder Iran etc.)! Über Suchmaschinen (die freilich auf Grundlage ihres Algorythmus eine Selektion vornehmen) ist doch alles suchbar. Das Problem ist doch folgendes:

    Ich muss wissen, was ich will und über welche Kanäle ich es mir zugänglich machen kann. Wenn ich von der Unterhaltungsindustrie in die Rolle eines Konsumenten herabgedrückt werde, ist es klar, dass ich mir nicht aus dem Mainstreamprogramm aussuche, was ich will, sondern nur zwischen Nuancen des Immergleichen zappen kann. Jeder kann doch Deutschlandradio Kultur hören, Kulturzeit auf 3sat schauen, sich über iTunes die gebildetsen Podcasts anhören und in Bibliotheken die feinsinnigsten Bücher lesen. Warum machen das nur einige wenige verrückte oder jene, die sich vom Mainstream abgrenzen wollen, weil es zu ihrem Stand gehört, etwa eine Tageszeitung wie die FAZ zu lesen? Weil der Rest im hermetisch abgeschirmten Sinnkosmos des Mainstreams gefangen ist.

    Hier greife ich den Standpunkt meines Kommentars zu Sergejs Gedicht "Sonnenstaat" wieder auf: man muss sich vom Konsumenten zum Produzenten von Sinn bilden. Dann ergibt sich von alleine der Hunger nach noch mehr Sinn.

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  3. Mit dieser Haltung macht der Kommentator aber m.E. zur Voraussetzung, was er zu beweisen glaubt: Man kann die Feststellung, dass eine geringe Nachfrage nach gehaltvollen Filmen besteht, nicht damit „widerlegen“, indem man ihr entgegen hält: Es müssten sich eben mehr Menschen dafür interessieren.
    Seinen inhaltlichen Widerspruch bemerkt der Kommentator außerdem selbst: „Ich muss wissen, was ich will und über welche Kanäle ich es mir zugänglich machen kann.“ Ganz genau! Und wenn man genau das nicht weiß, nützen einem die besten Kanäle nichts. Was nützt einem Wandere die Tatsache, dass alle Wege nach Rom führen, wenn er Rom gar nicht kennt? Soweit her ist es also mit der Meinungsvielfalt in der Gegenwart gar nicht, nicht einmal der Möglichkeit nach.

    Roman

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  4. Hier wurde ich auf eine ganz spezifische Weise nicht verstanden. Selbstverständlich stimme ich Roman darin überein, dass ich wissen muss, was ich will um es mir zu holen. Das ist trivial. Was ich, und ich dachte es sei offensichtlich, nicht ganz klar gesagt habe, war: das Sinnvolle muss nicht zum Mainstream gemacht werden um es rezipieren zu können. Da alles immer überall verfügbar ist, ist es ganz gleich, ob etwas Sinnvolles aus Versehen z.Bsp. im Mainstream-TV gesendet wird oder ob ich es mir auf den Dritten oder auf verschlungenen Blogpfaden zusammensuche. Es kommt darauf, dass ich mir im Klaren bin, was ich suche und dies ist ein vorgängiges Problem vor dem Kanalproblem und noch vor der Angebotsfrage. Dass also der Defa-Film keine Chance hat, ins Mainstream-TV zu gelangen ist kein Makel sondern ein Adel.

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  5. „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn. Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.“ (Schiller) Wenn man so argumentiert, ist es natürlich richtig: „Dass also der Defa-Film keine Chance hat, ins Mainstream-TV zu gelangen ist kein Makel sondern ein Adel.“ Gut, das ist ein Kompliment – aber auch ein Danaergeschenk.
    Dass Spur der Steine 1966 in der DDR drei Tage gezeigt und dann aus dem Programm genommen wurde, verzeiht man ihr nicht so einfach mit dem Argument, sie habe den Film damit geadelt. Da wird gehörig gezetert vom Unrechtsstaat. (Allein dass Erik Neutsch, der Autor des Buches, nach 1990 bekannte, dass die DDR und nicht die BRD seine Heimat war und er mit seinem Buch den Sozialismus verbessern und nicht beseitigen wollte, verzeiht man ihm nicht so leicht. Deshalb eignet er sich für solchen Adel auch nicht besonders.)
    Aber 20 Jahre nach der Wiedervereinigung laufen im BRD-Mainstream-TV Filme mit dem Titel „Die Grenze“, Hermann Kants Buch die Aula wird in MDR Figaro als „Gründungsmythos“ diffamiert, Horst Köhler behauptet am 9. November 2009 in Leipzig, die DDR habe zu den Montagsdemonstration Panzer rund um die Stadt postiert und die umliegenden Krankenhäuser mit Blutkonserven beliefert, und Michael Haller charakterisiert die Medienethik in der DDR schlicht und ergreifend damit, die Individualethik sei den „Imperativen des Systems“ unterworfen gewesen. Bei alledem wird aber wohl weißlich verschwiegen, dass in der DDR Filme mit tiefem humanistischem Gehalt, die den „Imperativen des Systems“ wohl widersprachen, produziert und unter Anwesenheit des Kulturministers der DDR Kurt Hager gezeigt wurden.
    Und darin sollten ich ein Versehen des Mainstream-TV sehen und mich bescheiden mit dem Adelsprädikat zufrieden geben? Mitnichten! Ich protestieren entschieden gegen eine solche Verzerrung der historischen Wahrheit und würde es lieber dem alte Cato gleichtun und jede Gelegenheit nutzen, um klipp und klar klarzustellen: Im übrigen bin ich der Meinung, dass selbst der schlechteste Sozialismus immer noch besser ist als der beste Kapitalismus!

    Roman

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  6. Ich möchte mit meiner Polemik nicht übers Ziel hinaus schießen und dem Kommentator etwas unterstellen, was er nicht gesagt hat. (Hier fließt natürlich auch viel Herzblut und Freude an der Diskussion mit ein.) Es ging mir nur darum, festzuhalten, dass ich seiner Kritik am ersten Kommentar nicht zustimme: Filme wie „Einer trage des anderen Last“ haben kaum eine Chance, im Mainstream-TV zu bestehen. Das Argument, dass das Individuum die Kanäle, über die es sich informiert, selbstständig wählen könnte, halte ich nicht für stichhaltig. Das mag grundsätzlich zwar so sein aber ändert nichts daran, dass im Mainstream-TV „Meinung gemacht“ wird. Die Kommentatorin hat m.E. völlig Recht: Solche Filme haben heute keine Chance zum Mainstream zu werden. Und wenn man nach den Ursachen dafür fragt, stößt man natürlich auf politische Fragen.

    Roman

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  7. und wenn solche Filme eine Möglichkeit hätten im Mainstream-TV gezeigt zu werden - große Werbekampagne natürlich vorausgesetzt, in der z. B. mit abstürzenden Flugzeugen geworben würde - würden sie es trotzdem schaffen, große Einschaltquoten zu erzielen? Nicht vergessen, Um selbe Uhrzeit läuft Raab- Prügel o. ä...
    ökonomische Frage: was kostet eine TV-Produktion heutzutage? Würde ein humanistisch gesinnter TV-Boss seinen Posten riskieren, um der Allgemeinheit Filme mit humanistischem Gehalt zu zeigen?
    S.

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