Dienstag, 27. Oktober 2009

Maria gegen Magdalena - Gedanken über eine unwichtige Frage

Auch wenn man sich der medialen Beschallung zu entziehen versucht, bisweilen kommt man nicht umhin, erfahren zu müssen, was ein Bürger eines kapitalistischen Landes zu wissen und was ihn zu interessieren hat. So informierte der Email-Verwalter GMX die Besucher seiner Webseite kürzlich darüber, dass bei Prominenten und Teenagern ein neuer Trend zur sexuellen Enthaltsamkeit vorherrsche und es Mode würde, als neues „Reinheitsprogramm“ ausschließlich ehelichen Sex zu praktizieren.


Nun, mit Reinheit hat eine solche Lebenseinstellung wenig zu tun, allenfalls mit langweiligem Puritanismus, mehr noch mit hinterwäldlerischen, antiquierten und verlogenen Moralvorstellungen. Die Monogamie, der sexuelle Verkehr mit einem Geschlechtspartner, ist fortschrittliche Errungenschaft der menschlichen Entwicklung zugleich und widersprüchlich aber auch Produkt der ersten Form der Unterdrückung von Menschen durch Menschen, der Unterdrückung der Frau durch den Mann, entstanden aus der Herausbildung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Sollten diese Produktionsmittel, z.B. Viehherden oder bewirtschaftetes Land, die durch den historischen Zufall oder als Resultat gesellschaftlicher Arbeitsteilung unter Verfügungsgewalt des Mannes standen, bei dessen Tod und bei Vererbung weiterhin im Eigentum seiner Familie verbleiben, musste die Erbfolge nach der männlichen Linie erfolgen und beobachtet werden. Nicht nur der Lateinkenner weiß aber, dass, solange den Menschen Gen- und Vaterschaftstest unbekannt waren, der Satz galt: „Pater semper invictus – Der Vater ist immer unbekannt.“ Und so musste sich denn die Frau ihres Rechtes auf freie Liebe entledigen und dem „Reinheitsprogramm“ der geschlechtlichen Unbeflecktheit unterwerfen, denn ihre Nachkommen durften nur die Nachkommen ihres einzigen Mannes sein. Dass dieses geschlechtliche „Reinheitsprogramm“ selbstverständlich einher ging mit der Zurückdrängung der Frau aus der politischen und öffentlichen Sphäre der Gesellschaft in die verklärte Romantik des Privaten, ist nur ein Teil, der die Doppelbödigkeit der hier angezeigten Moralvorstellungen beweist. Die neue zivilisierte Sittlichkeit schuf sich auch jene Ventile, die gestatteten, den moralisch verklärten Schleier ihrer Borniertheit beständig zu unterwandern. Mit der Monogamie entstand zugleich die süffisant „ältestes Gewerbe der Welt“ genannte Prostitution. Die Prostitution gestattete es nicht nur, weibliche Sexualität als Arbeitskraft profitbringend zu verwerten, sie schuf gleichzeitig jenen moralischen Zustand der Gesellschaft, der in jeder Biografie einer männlichen historischen Persönlichkeit den gelegentlichen Seitensprung nicht nur nachsichtig verzeiht, sondern als Zeichen besonderer Männlichkeit geradezu sucht und erwartet, während sie ihre Gretchen gleichzeitig für die Geburt jedes unehelichen Kindes erbarmungslos verurteilt. Die abgeschmackte Romantik des mittelalterlichen Minnegesangs sowie die weltfremde Idee der platonischen Liebe zwischen Mann und Frau sind letztlich in ihrem inneren Kern nichts anderes, als der leise Widerstand der Weiblichkeit gegen ihre gesellschaftliche Unterdrückung: Während ihr ehelicher Rittersmann tapfer schöne Prinzessinnen vor bösen Drachen befreit und anschließend freit, darf das keuche Burgfräulein sich doch wenigstens platonisch, d.h. im Geiste, von ihren ritterlichen Verehrern besingen lassen. Dass die puritanische Reinheitsmoral im Kapitalismus, der notwendig Armut erzeugt, gleichzeitig dazu geeignet ist, ein Bewusstsein zu schaffen, dass sexuelle Entsagung und nebenher jede Art körperlicher und seelischer Entsagung aus materieller Not heraus, phantastisch verklärt, zeigt zusätzlich, welcher Art die Moral ist, die dem heutigen Medienkonsument auf solche Weise nahe gelegt werden soll.

Es wäre allerdings falsch, aus solcherlei Betrachtung die gegenteilige Lebensweise für besonders revolutionär zu halten. Wer seinen Adorno gelesen hat, weiß: 


 Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht. Der Wechsel auf die Lust, den Handlung und Aufmachung ausstellen, wird endlos prolongiert: hämisch bedeutet das Versprechen, in dem die Schau eigentlich nur besteht, daß es zur Sache nicht kommt, daß der Gast an der Lektüre der Menükarte sein Genügen finden soll. […] Die permanente Versagung, die Zivilisation auferlegt, wird den Erfaßten unmißverständlich in jeder Schaustellung der Kulturindustrie nochmals zugefügt und demonstriert. Ihnen etwas bieten und sie darum bringen ist dasselbe. Das leistet die erotische Betriebsamkeit. Gerade weil er nie passieren darf, dreht sich alles um den Koitus.“ (Adorno/Horkheimer: Die Dialektik der Aufklärung) 


Die sexuelle Emanzipation der 70er Jahre brachte nicht die gesellschaftliche Emanzipation mit sich. Sie öffnete die Sexualität, indem sie sie vom scheinheiligen Rest des gesellschaftlichen Bann einer öffentlichen Moral befreite, einem gierigen Markt kapitalistischer Verwertung, in dem das Geschäft mit dem Sex heute lukrativer geworden ist als jede Form des Kulturschaffens. Es mag sich jeder Konsument von Pornografie, käuflicher Sexualität oder jeder Anhänger ungebundener, freier Liebe selbst fragen, ob kurzzeitige und immer währende Befriedigung sexueller Bedürfnisse gleich bedeutend ist mit der Erfüllung des umfassenden seelischen und körperlichen Bedürfnis nach Glück – mit Moral hat diese Frage reichlich wenig zu tun. Nicht nur in der Form abgeschmackter Moralvorstellungen, auch in ihrer entmoralisierten, kommerzialisierten Form kann Sexualität heute in entscheidendem Maße Instrument und Mittel gesellschaftlicher Unterdrückung sein. „Wer ficken will, muss freundlich sein“ und hat – das sollte ergänzt werden – sich ebenso gesellschaftlichen und das heißt gleichzeitig herrschaftlichen Normen anzupassen, um von seinem potentiellen Geschlechtspartner nicht nur als freundlich, sondern auch als gesellschaftlich reproduktionswürdig anerkannt zu werden. Und schließlich ist es bekannt, dass im Augenblick des Koitus die wenigsten Menschen eines Gedankens fähig sind, erst Recht keines gesellschaftspolitischen. 
 
Dem Fragenden und Suchenden nach einem geeigneten und zufriedenstellenden Umgang mit Sexualität kann hier tatsächlich nur im wörtlichen Sinn die Lessingsche Parabel ans Herz gelegt werden: „Es eifre jeder seiner von Vorurteilen freien Liebe nach“ und es schere sich niemand um vorgegebene gesellschaftliche Moral.


Viel wichtiger erscheint angesichts der Lebensweisen und Moralvorstellungen, die man uns solcherart schmackhaft zu machen gedenkt, die Frage, wie die Gesellschaft beschaffen ist, die ihre Konsumenten auf so billige Weise abspeist, und was man gegen sie unternehmen sollte.


von Roman Stelzig

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