Dienstag, 27. Oktober 2009

Wo die Titanic wohnt oder Vergiß nicht deinen Wasserhahn, wenn du gehst

Es war einmal ein Schiff, das hieß Titanic. Es war so groß oder klein, wie es war. Darauf lebten die titanischen rosaroten Seebären. Ihr Hafen war ein kleiner Malmstrom. Woanders konnte das Schiff nicht ankern, denn sein Rumpf war so tief, wie mein halber Zeigefinger lang, mindestens. Die titanischen rosaroten Seebären waren ein genügsames Volk. Doch irgendwann war das ewige Herumlungern im Malmstrom auch ihnen langweilig. Da stand der Größte von ihnen auf, das war der Kapitän. Er sagte: „Männer“, sagte er, „es ist an der Zeit, die Welt zu entdecken. So ein Malmstrom ist ja ganz hübsch, aber ich habe auch noch nie den Uniriesen gesehen.“


„ Jawoll“, riefen da die Männer.
Jeder nahm noch schnell ein Tictac mit auf den Weg, und los ging's. Die titanischen rosaroten Seebären mußten furchtbar rudern und kämpften sich aus dem Malmstrom hinaus. Denn so ein Malmstrom geht ja bekanntlich nach innen, und man muß schon ein unerschrockener Seebär sein, um da Erfolg zu haben.
Neben dem kleinen Malmstrom lag ein großer Malmstrom. An dem mußte man rechts vorbei und durch eine kleine grüne Brücke, um ins offene Meer zu gelangen. Diese kleine grüne Brücke stand mitten auf dem Wasser und verband Nirgendwo mit Da drüben. Deren fischige Bewohner waren sehr glücklich darüber und konnten sich gar nicht mehr erinnern, wie sie eigentlich von einem Ort zum anderen geschwommen waren, als es die Brücke noch nicht über ihnen gegeben hatte. Die titanischen rosaroten Seebären steuerten geradewegs auf die Brücke zu, als ein kleiner gemeiner Wirbelsturm, der eigentlich gar nicht so gemein war, sondern nur einsam, weil die anderen Wirbelstürme ihn nicht beachteten, und der sich nach Kuscheln sehnte, ihnen einen Streich spielte und sie versehentlich haarscharf an der Brücke vorbeiblies – geradewegs in den großen Malmstrom hinein. Mit dem war nun wirklich nicht gut Kirschenessen, der hatte noch nie etwas wieder hergegeben, daß sich in seinen Unterröcken verfangen hatte. Und er war ein bißchen groß. Unsere tapferen Seebären brauchten 12 Jahre für die erste Umrundung in der äußeren Strömung. Sie waren gerade vor Langeweile bei der 17. Strophe von 17 Mann auf des toten Mannes Kiste angelangt – die kennst du nicht? Weißt du, die geht wie die 13. So: Mhm mhm mhm mhmmhm mhmmhm mhm mhm... Ja genau die. – Da rief der kleine Jimmy aus dem Ausguck plötzlich: „UGSO steuerboooord!“ UGSO ist titanisch und bedeutet: Unbekanntes gelbes Sitzobjekt. Da schwamm nämlich der gelbe Liegestuhl vom Kapitän, das war der Größte von ihnen, gemächlich an ihnen vorbei.
„Ja also, zum Katzenkratzen und Mäusemelken“, schrie der Kapitän. Das war der Größte von ihnen. „Wie kommt der denn hier her? Den hab ich doch vor unserer Reise noch ordentlich zusammengeklappt an unsere Hauswand gelehnt. An genauso eine feine orangene wie die dort...“
Dem Größten von ihnen, das war der Kapitän, blieb das Wort im Halse stecken. Stumm standen die titanischen rosaroten Seebären und sahen ihrem kleinen orangenen Häuschen zu, wie es fröhlich mit den runden Fenstern winkend und zum Gruße mit der schiefen Tür klappernd, an ihnen vorüber zog. Nur das spitze Dach, das sich für seine Unspitzheit immer ein bißchen schämte, drehte sich verwirrt noch einmal nach ihnen um. Im Schornstein saß der kleine Wirbelsturm und schlief seinen Rausch aus. Er lächelte verträumt, denn er hatte soeben einen Malmstrom gehörig vermalmt. Der war zwar nicht größer als eine Sardinenbüchse, aber was machte das schon. Malmstrom ist Malmstrom.
Nachdem er nämlich die Seebären mal eben ganz gemein an der grünen Brücke vorbeigepustet hatte, ist er geradewegs in ihren kleinen Malmstrom geraten. Da hat er furchtbar Angst gehabt, weil er nicht gleich den Weg wieder hinaus fand. Und wie ein kleines trotziges Kind hat er mit dem Fuß ganz Fest auf den Boden gestampft und geschrien: „Ich will hier raus, sofort, sofort, sofort!“ Da zitterte der kleine Malmstrom, der es noch nie leiden konnte, wenn sich zweie in ihm stritten. Und das kleine orangene Häuschen geriet ins Wanken. Der kleine Wirbelsturm aber kam jetzt erst richtig in Fahrt. Er nahm ganz viel Anlauf – und das kleine Haus einfach mit. Erst im großen Malmstrom hielt er inne, da war er ganz schön aus der Puste. So setzte er das Häuschen ab und schlief augenblicklich im Schornstein ein. Das alles konnten die titanischen rosaroten Seebären natürlich nicht wissen. Dem Größten von ihnen, dem Kapitän, stand vor Staunen der Mund so weit offen, daß ihm beinahe Hugo der Walfisch hinein geschwommen wäre. Eigentlich hieß er Hügo, denn er war Franzose, und die sprechen alles ganz anders aus als wir, und noch eigentlicher war er gar kein Franzose sondern seine Großmutter väterlicherseits, aber Hügo fand, so eine Besonderheit würde einen schon recht besonders machen und gehöre angestrichen. Das bedeutet, er erzählte sehr gern und sehr oft davon und auch immer wieder. Überhaupt strich Hügo gern Dinge an. Gerade eben war er dabei, dem Grau an seiner linken Seitenflosse ein hübsches rosa Muster zu verpassen. Dabei hat er natürlich nicht aufgepaßt, wo er hinschwamm und als Jimmy „Achtung, Käptn!“ rief, sind beide, Hügo und der Größte der Seebären, der Kapitän, mächtg erschrocken. Hügo bekam gerade so die Kurve, aber sein Pinsel nicht. Und so bekam der Kapitän, der Größte der titanischen rosaroten Seebären, einen hübschen rosa Bart, nur daß man das leider nicht so sah, weil die rosaroten Seebären ja eh schon recht rosa waren.
Aber er wäre kein unerschrockener Seebär gewesen, wäre er davon erschrocken. Schnell schloss er den Mund wieder und befahl: „Alle Mann an die Ruder! Schnell! Unserem Haus hinterher. In der Speisekammer lagert noch ein Jahresvorrat Sardinen.“
Sardinen waren für die titanischen rosaroten Seebären so lecker wie Nudeln mit Tomatensoße für uns. Und sie kannten so allerlei Tricks für eine erfolgreiche Sardinenjagd. Wenn zum Beispiel ein titanischer rosaroter Seebär jemanden Sardinen essen sah, lächelte er ihn ganz freundlich an, zeigte dann urplötzlich erstaunt auf einen Punkt hinter ihm und sagte: „Guck mal! Ein großer, grüner Elefant mit lila Punkten!“ Natürlich drehte der sich dann um und guckte. Wer würde sich nach einem großen, grünen Elefanten mit lila Punkten nicht den Hals verdrehen? In diesem Moment stibitzte der Seebär dem ahnungslosen Sardinenbesitzer im Handumdrehen eben jene unter der Nase weg. Und wenn der sich dann wieder umdrehte und fragte: „Wo? Ich seh keinen.“, sagte der Seebär: „Du, der ist so schnell weggehuscht. Junge, sind die fix!“
Nun, die Sardinen waren den titanischen rosaroten Seebären gerade ausgegangen. Sie waren ja auch schon 12 Jahre unterwegs. Sie ruderten, als ginge es um ihr Leben und holten bald ihr orangenes Häuschen ein. Zum Glück hatten sie in der ersten Etage ein Fenster offen gelassen, so konnten sie hinein klettern und den Sardinenvorrat holen. Außerdem wurden gerettet: Jimmys Teddy Henry, die Hühnereierbecher, die Küchengardine, das Weihnachtsbaumlametta, ein bunter Roller, das Sockenmonster und die alte Apfelstiege, mit der man so gut Buden bauen konnte. Sie wollten gerade noch den grüne Wasserhahn hinaustragen, da gab Jimmy Alarm. So ein Malmstrom wird ja nach innen immer enger. Seit einiger Zeit schon drehte sich die Titanic immer schneller im Kreis und kam dem tosenden Abgrund immer näher. Der Lärm war mittlerweile so groß, daß man nur noch sein eigenes Wort hörte. Das kann man nämlich in seinem eigenen Kopf hören, da braucht man die Ohren nicht. Das kleine orangene Häuschen ächzte und stöhnte. Einiges wurde schief und anderes geriet in Unordnung. Das ein oder andere ging auch verloren und ein paar Dinge einfach kaputt. Nach Jimmys Signal schafften es gerade noch alle rechtzeitig wieder zurück an Bord der Titanic, bevor das Haus mitsamt des grünen Wasserhahns krachend und heulend im Strudel verschwand.
Das Heulen kam übrigens von unserem kleinen Bösewicht, dem Wirbelsturm. Als der nämlich nasse Füße bekam, war er mit einem Mal wieder hellwach, hüpfte aus dem Schornstein und flog davon. Er hatte keine Lust, herauszufinden, was sich wohl im Inneren des großen Malmstroms befand. Das wußte niemand, selbst unsere unerschrockenen titanischen rosaroten Seebären nicht. Denn der Malmstrom gab ja, wie gesagt, nichts von dem, das sich in seinen Unterröcken verfangen hatte, je wieder frei. Der Kapitän, das war der Größte der Seebären, war daher auch ein klein wenig aufgeregt, als sich die Titanic schließlich über den inneren Rand des Malmstroms schob, kurz über dem recht unspektakulär kieselsteinigen Abgrund schwebte und schließlich mit einem immer lauter werdenden Pfiff „pfhühhhhHHiiiIIIHHHe!“ hinabsauste, wie ein vom Hafer gestochener Fahrstuhl. Schnell hielt sich jeder Seebär an irgendetwas fest, um nicht umzufallen. Der Jimmy am Johnny, Archibald am Rumfaß, der Koch an seiner Mütze, der Steuerbär am Papagei, Marie an ihrem Glauben und der Größte von ihnen, das war der Käpitän, der schob sich fluchs den Daumen in den Mund. Aber pssst, das ist streng geheim, weil so etwas machen Kapitäne eigentlich nicht mehr. Es machte laut Plop!, und dann nichts mehr.
Ruhe.
So leise, daß man selbst sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Dem war das nämlich unheimlich so allein, und so verstummte es. Und rundherum Dunkelheit. Ich sollte besser sagen: Schwärze. Schwärzer als jede Nacht. Man sah die Hand vor Augen nicht. „Ruhsch blobn, Männesch!“, nuschelte der Größte der Titanen, das war der Kapitän.
„Wie bitte, Käptn?“, fragte Jimmy. Der Kapitän, der Größte von ihnen, nahm schnell den Daumen aus dem Mund.
„Äh, ruhig bleiben, Männer!“, wiederholte er. Und: „Johnny, wir brauchen Licht.“ „Jawoll, Käptn!“, rief der Johnny und holte fix die Glühwürmchen aus den Betten. Die schliefen nämlich. Es war ja hellichter Tag. Eigentlich. Die Glühwürmchen setzten ihre Regenmützen auf. Sicher ist sicher. Und dann schwärmten sie päarchenweise aus, das bedeutet immer zwei von ihnen hielten sich an der Hand. Sicher ist sicher. Nun konnten die titanischen rosaroten Seebären zumindest einander wieder sehen. Schnell wurde durchgezählt, ob auch niemand fehlte. Es gab einen kurzen Schreck, als das Rumfaß vermißt wurde. „Oohh!“ Dann stellte sich heraus, daß Archibald noch da war. Er hatte sich im allgemeinen Tohuwabohu an den Mast statt ans Rumfaß geklammert. „Aahh!“
Nun wurde die Umgebung beleuchtet. Die Glühwürmchen flogen so weit vom Schiff weg, wie sie sich getrauten. „Steuerbord?“, fragte der Größte von den Seebären, was der Kapitän war. „Schwarz, Käptn“, rief der Koch. „Backbord?“, fragte der Kapitän, der Größte von ihnen. „Äh, nach Ausschluß aller anderen, äh, Farben, äh, wobei es sich hier natürlich nicht um, äh, eine Farbe im eigentlichen Sinne handelt, äh, schwarz, Käptn.“ Das war der Steuerbär. Der sprach immer ein bißchen kompliziert, und manchmal verstand man ihn nicht so ganz, und dann kamen die titanischen rosaroten Seebären oft nicht ganz dort raus, wo sie hingesteuert hatten. „Auch schwarz“, ertönte ein Ruf von vorn vom Bug. „Und achtern?“, fragte der Größte, der Kapitän, nach hinten. „Schwarz“, krächzte der Papagei. Und dann: „Au“. Er hatte sich im Dunkeln die Zehe am Heck gestoßen. Auch unter dem Schiff war es, soweit die Glühwürmchen leuchten konnten, dunkel. Da knatterte es in der Takelage der Schiffes. Ein kleiner, fleißiger Wind blähte die Segel. Und zitternd setzte sich die Titanic in Bewegung.
„Mhm“, sprach der Kapitän, der von den Seebären der Größte war.
Und „mhm“, sprachen da die Männer.
So fuhren sie eine Ewigkeit dahin. Es passierte überhaupt gar nichts. Es war schwarz und wenn die Glühwürmchen schliefen, die sich manchmal ein bißchen abwechselten, war es noch ein wenig schwärzer. Die titanischen rosaroten Seebären sangen alle Lieder, die sie kannten. Und als sie damit fertig waren, begannen sie von vorn. Sie aßen einen Jahresvorrat Sardinen und dachten wehmütig an den grünen Wasserhahn aus ihrem orangenen Häuschen. Denn ohne den gab's keinen heiß geliebten Seetangtee. Für Tee braucht man Trinkwasser. Und für Trinkwasser...na? Richtig. Einen Wasserhahn. (Genaugenommen braucht man unter dem Wasserhahn noch eine Wasserleitung und einen Brunnen, aber das hier ist ein Märchen. Und da nehmen wir das nicht so genau.) Den Seebären begann es gerade so richtig langweilig zu werden, und sie muffelten sich auch schon ein bißchen voll, da spuckte die Schwärze sie plötzlich wieder aus.
Plop!
Das Schiff wackelte tüchtig, und alle purzelten durcheinander. Im nächsten Augenblick dümpelte es unter strahlend blauem Himmel gemütlich im Hafen in dem kleinen Malmstrom rum. Möwen kreischten über ihnen, die Wellen schwappten lustig an den Bug, und die Seepferdchen wieherten. Verdutzt blinzelten die tapferen Titanen in die ungewohnte Helligkeit. Die anfängliche Freude verstummte sofort wieder, als sie die unvorstellbare Unordnung überall sahen. Der kleine gemeine Wirbelsturm hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Keine Welle planschte mehr dort, wo sie hingehörte. Die Seebären hatten sie extra nach ihrer Größe und der Höhe ihrer Schaumkronen sortiert, damit nicht aus Versehen eine große über eine kleine rollte. Nun waren sie nicht nur völlig durcheinander geraten, manche machten sogar Handstand auf ihren lustigen Kronen. Das sah schon ein wenig merkwürdig aus. Und nicht nur das. Die Seepferdchen waren auf die Weide der Seekühe gewirbelt wurden, und nun muhten und wieherten alle durcheinander. Es ging zu wie im Hühnerstall. Die Seebären hielten sich die Ohren zu. Und natürlich fehlte ihr orangenes Häuschen und der Liegestuhl vom Kapitän, das war der Größte von ihnen.
„Mhm“, sprach dieser und „mhm“, sprachen auch die Männer.
„Ich weiß nicht, wie es euch geht, Männer“, brummelte er weiter, während er mit langen, nachdenklichen Schritten auf dem Deck auf und ab lief. „Es ist recht durcheinander hier.“ Auf. „Und gar nicht mehr hübsch aufgeräumt.“ Ab. „Selbst wenn ich noch einen gelben Liegestuhl hätte.“ Auf. „Es ist ja gar kein Platz, ihn hinzustellen.“ Ab. „Und unser orangenes Häuschen ist auch nicht mehr da.“ Auf. „Das ist recht ungemütlich.“ Ab. „Auch wissen wir noch immer nicht, was sich hinter der kleinen grünen Brücke verbirgt.“ Auf.
Da die titanischen rosaroten Seebären ihren Steuerbären so schlecht verstanden, waren sie nämlich quasi, na ja, sie waren eigentlich vor ihrem jetzigen Abenteuer noch nie wirklich richtig losgefahren. Der Größte unter ihnen, auch Kapitän genannt, blieb stehen. Die Männer schwiegen erwartungsvoll.
„Männer, wir fahren zur See!“
Lautes „Jawoll!“, „Juchee!“ und“Heißa!“ erscholl. Klar. Wer hätte schon Lust auf Wellen sortieren gehabt. Das erinnert verdächtig an Zimmer aufräumen.
Jeder nahm noch schnell ein Tictac mit auf den Weg und los ging er. Na ja, fast jeder. Die dicke Marie fand Unordnung unerträglich. Sie krempelte die Ärmel hoch, rümpfte mutig die Nase und sagte: „Ich bleibe hier. Irgendeiner muß hier schließlich nach dem Rechten sehen, während ihr unterwegs seid.“ Sie guckte dabei so kämpferisch und finster, daß das Rechte, nachdem sie sehen wollte, es mit der Angst zu tun bekam und sich unter der Ofenbank verkrochen hätte, wäre die nicht mit dem orangenen Häuschen davongepustet wurden.
Archibald, der die Marie dolle gern hatte, blieb auch.
Die anderen titanischen rosaroten Seebären mußten wieder furchtbar rudern und kämpfen aus dem Malmstrom hinaus. Ein zweites Mal steuerten sie geradewegs auf die kleine grüne Brücke zu und diesmal durch diese hindurch. Mit einem übermütigen Hopser und lautem Gesang fuhren die Titanen auf das offene Meer hinaus. Sie waren kaum eine Nase lang unterwegs da rief Jimmy: „Land in Sicht!“ Erwartungsvoll liefen alle zur Reling. Vor ihnen gleiste und glimmte eine Insel im Wasser. Die sah aus, als wäre ein Klümpchen von der Sonne runtergepurzelt, gerade da ins Meer hinein. Die titanischen rosaroten Seebären setzten ihre Sonnenbrillen auf. Jimmy zog sich die dicken Topflappenhandschuhe an, kletterte in den Ausguck und holte den gelben Sonnenball herunter. Dann untersuchten sie ihn genauer. Und wirklich, unten rechts war ein kleines Loch. „Ich muß doch sehr bitten“, sprach die Sonne würdevoll, als Johnny sie ein bißchen zu fest drückte. Schnell ließen die Seebären sie wieder frei. Die Sonne schüttelte empört ihren Strahlenkranz aus und zog geschwind ihre Bahn. Sie hatte recht viel Zeit verloren. Es war schon Nachmittag, und sie war noch sehr im Osten. Im Wasser schwamm derweil ein Stückchen von ihr, als wäre das ganz normal. Die Farbe war wohl nicht ganz wasserfest, oder vielleicht schmolz auch die Insel, denn sie war von einer trägen, gelben Pfütze umgeben. Die hinterließ einen hübschen Anstrich am Bug der Titanic. Auf der Insel standen sieben merkwürdige kleine Häuser. Die waren rund und hatten putzige Kappen auf dem Kopf wie Pilze.
Hallo!“, rief der Größte der titanischen rosaroten Seebären, denn seine Frau Mama hatte ihm beigebracht, daß man bei Fremden nicht einfach so ins Haus hineinmarschieren könne. Aber er bekam keine Antwort.
„Vielleicht, äh, sprechen sie fremdländisch, äh, also quasi von hinten.“, sagte der Steuerbär. „Ach so“, brummte der Kapitän, das war nämlich der Größte der Seebären. „Von hinten.“ Er überlegte kurz. Dann rief er:
!Ollah
Wieder antwortete ihm nur das Meeresrauschen. Das ist recht geschwätzig und mischt sich gern in die Gespräche anderer Leute. „Mhm“, sprach der Kapitän, er war der Größte unter den Titanen. Und „mhm“, sprachen auch die Männer.
Die Titanic fuhr ganz vorsichtig an die Insel heran, um nicht dran zu bumsen. Dann sprang Jimmy an Land und band das Schiff mit dem Seil an einem Fahrradständer vor einem der Häuser fest. Die anderen Seebären folgten ihm. Der Größte von ihnen, der Kapitän, klopfte an die Tür. Nichts. Er klinkte vorsichtig. Verschlossen. Alle Häuser waren verschlossen. Nirgendwo ein Lebenszeichen. „Wir könnten eine Tür aufbrechen“, schlug der Koch vor und kratzte sich mit dem Kochlöffel unter der Kochmütze.
„Moment!“ Der Kapitän, der größte Seebär, dachte an seine Frau Mama, die ihm Höflichkeit beigebracht hatte und zog die schmutzigen Stiefel aus. Dann brach er die Tür auf und ging hinein. Die Männer folgten ihm. Drinnen standen sieben Bettchen, davor ein Tisch und sieben Stühlchen. Der Tisch war für sieben Personen gedeckt: sieben Teller mit sieben Stückchen Pizza darauf, sieben mal Kinderbesteck und sieben pinkfarbene Häschentassen. Die Häschentassen waren mit derselben gelben Flüssigkeit gefüllt, welche die Insel umschwappte. Neugierig schnüffelte der Größte der titanischen rosaroten Seebären, der Kapitän, daran. Sie roch nach einem warmen Sommertag.
„Äh, wenn man so überlegt, äh, woraus die Sonne gemacht ist, äh, und daß es sich bei, äh, jener Flüssigkeit vielleicht um, äh, geschmolzene Sonne handeln könnte, äh, glaube ich nicht, daß es anzuraten wäre, äh, eine Kostprobe davon zu nehmen.“, meinte der Steuerbär. „Wie bitte, Steuerbär?“, fragte der große Kapitän, der kein Wort verstanden hatte.
„Ich glaube, er sagte: Nicht trinken, weil vielleicht giftig.“, erklärte Jimmy.
„Mhm“, sprach da der Kapitän, der Größte von ihnen, und „mhm“ sprachen auch die Männer. Wie sie noch überlegten, wo die kleinen Inselbewohner mit der Vorliebe für pinkfarbene Häschentassen wohl sein könnten, rumste es gewaltig. Die Seebären stürzten nach draußen und wagten ihren Augen kaum zu glauben. Neben der Titanic schwamm ein Stück orangenes Häuschen im Wasser und klapperte vergnügt, daß es sie gefunden hatte, mit seinem Fenster. Eine hilfsbereite Strömung hatte ihm den Weg gewiesen. Zum Glück war es das offene Fenster in der ersten Etage, so konnten die titanischen rosaroten Seebären hineinklettern. Wie groß war ihre Freude, als sie drinnen ihren grünen Wasserhahn fanden. Sogleich kochten sie eine Kanne frischen Seetangtee. Das war eine Wonne, fast wie zu hause.
„Männer“,sprach da der Größte der Seebären, das war der Kapitän, und lief im Häuschen auf und ab. „Es ist ein großes Glück, das wir unseren Wasserhahn wiederhaben.“ Auf. „Dieses Glück dürfen wir den tapferen Daheimgebliebenen nicht vorenthalten.“ Ab. „Auch Marie und Archibald werden sich über frischen Seetangtee freuen.“ Auf. „Und sie können sicher Hilfe bei der Seetangernte am Donnerstag gebrauchen.“ Ab. „Mit dem Stück unseres orangenen Häuschens können wir beginnen, ein neues zu bauen.“ Auf.
„Wir fahren also nach hause.“ Ab.
„Jawoll“, riefen die Männer und beschlossen, das Geheimnis der Sonneninselbewohner ein andermal aufzuklären. Niemand wollte es zugeben, aber sie hatten alle Heimweh. Sie banden das Stück des orangenen Hauses an die Titanic und setzten die Segel. Kurs: kleiner Malmstrom. An der kleinen grünen Brücke befestigten sie einen Wegweiser. Darauf stand: Sonneninsel dort. Dann fingen sie noch ein paar Sardinen und fuhren nach hause zu Archibald und Marie, die sich natürlich freuten. Sie hatten schon mächtig aufgeräumt. Die Wellen schnatterten nur noch ein ganz kleines bißchen durcheinander. Nach einem Bild, daß der Steuerbär im Internet gefunden hatte, bauten alle zusammen ein Haus. Als es fertig war, sah es aus wie der Uniriese. „Na also“, brummelte der Kapitän, was der Größte der Seebären war, zufrieden und nahm einen Schluck Seetangtee. „Jetzt müssen wir gar nicht mehr wegfahren, um ihn uns anzugucken.“
„Jawoll!“, riefen da die Männer und die Seepferdchen wieherten.


Thore und Mama, 2009

3 Kommentare:

  1. Die Geschichte finde ich wunderbar. Besonders beeindruckt mich, dass hier ein unverkennbarer humorvoller Schreibstil über die gesamte Länge des Textes beibehalten und die verschiedenen liebenswürdigen Charaktere der titanischen rosaroten Seebären herausgearbeitet wurden. Wer selber einmal einen Text geschrieben hat, weiß sicher, wie schwer es ist, über längere Zeit eine bestimmte Stimmung sprachlich auszudrücken, ohne dabei eintönig zu werden oder sich zu wiederholen. Ich finde, dass die Geschichte deshalb eine besondere literarische Leistung ist.
    Aber ist Literatur, die sich an Kinder richtet, auch Kunst? Antoine de Saint-Exupéry oder Erich Kästner sind Beispiele für Schriftsteller, die durch Kinder- und Jugendliteratur Weltrum erlangten. Bedarf es aber für die Kunst nicht auch eines ernsthaften Sujets und einer tieferen Aussage, die sich an Erwachsene richtet oder nur von Erwachsenen verstanden werden kann? Oder aber ist das Schreiben für Kinder eine Kunst, die weit schwieriger ist, als das Schreiben für Erwachsene?

    Roman

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  2. Man braucht doch nichts Ernsthaftes für Kunst. Joseph Beuys' "Fettecke" bekannt?

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  3. Nein, ist nicht bekannt. Ich bitte um Aufklärung.

    Roman

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