Ein Buch, dem man auf den ersten Blick ansieht, in welchem historischen Umfeld es geschrieben wurde, ist der Roman Malevil des französischen Schriftstellers Robert Merle aus dem Jahre 1972.
Ein Atomschlag vernichtet die menschliche Zivilisation, nur wenige Menschen überleben den Untergang der bisher bekannten Welt durch Zufall und im Schutze besonderer topografischer Gegebenheiten. Zu diesen Menschen gehören der Pferdezüchter und Weinbauer Emanuel Comte und seine Freunde, die sich zum Zeitpunkt der Katastrophe mit ihm gemeinsam im Weinkeller der Burg Malevil aufhalten. Die mittelalterliche Burg, die Emanuel Comte als kulturellen Luxus erworben und zu seinem Wohnsitz gemacht hatte, wird Heimstädte der kleinen Schar Überlebenden und neue Wiege der menschlichen Spezies. Binnen weniger Stunden ändern sich die alltäglichen Aufgaben der neuen Bewohner von Malevil grundlegend: das eigene Überleben muss sicher gestellt, junge Saat auf der verbrannten Erde heraufgezogen, die in den Ställen der Burg erhalten Tiere versorgt, die Mauern der Burg wieder errichtet, nach Überlebenden gesucht und Schutz vor Plünderern organisiert werden. Denn die Bewohner von Malevil sind nicht die einzigen, die die Katastrophe überlebt haben.
Es klingt und liest sich wie ein Abenteuerroman oder eine düstere Utopie, die als Warnung an die Menschheit gerichtet ist. Beides ist richtig und doch ergäbe beides Zusammen noch keinen Roman von Robert Merle. Der Schriftsteller, der in seinem bürgerlichen Beruf Professor für Anglistik war, bezeichnete seine Bücher selbst als politisch-utopische Literatur. Als zeitweiliges Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs wird er wahrscheinlich – das kann hier nur vermutet werden – auch Anhänger einer materialistischen Weltanschauung gewesen sein, gefesselt womöglich vom Gedanken, dass menschliches Zusammenleben erforschbar und gesetzmäßig erklärbar ist. Aus dieser Perspektive erscheint der Roman Malevil tatsächlich wie eine Versuchsanordnung in einem Labor aus Gedanken, wie ein gedankliches Experiment zur Erforschung der Gesetze menschlichen Zusammenlebens, wie eine Robinsonade, die geschaffen wurde, dem Leser auf unterhaltsame Weise zu verdeutlichen: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Karl Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie)
Denn es ist auffallend, dass im Zentrum der Handlung schon bald nicht mehr die Erfahrung und Verarbeitung der schrecklichen Katastrophe stehen, sondern die Veränderungen im sozialen Zusammenleben und Denken ihrer Protagonisten. Hierarchien und Befehlsstrukturen bilden sich heraus, das geschlechtliche Verhältnis von Mann und Frau wandelt sich, die Religiosität nimmt in einem Maße zu, dass religiöse Autorität zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor avanciert, und die überkommenen Moralvorstellungen der Menschen des 20. Jahrhunderts passen sich der materiellen Notwendigkeit an, das Überleben der eigenen Gemeinschaft sicher zu stellen. All dies vollzieht sich vor dem Hintergrund materieller Probleme, die es zu lösen gilt, im Ergebnis konkreter Erfahrungen oder gleichsam als logische und gesetzmäßige Ergebnisse der Produktionsweise des materiellen Lebens in den sich neu entwickelnden Gemeinwesen.
Wie jede Robinsonade besitzt auch der Roman Malevil den Mangel, eine gedankliche Konstruktion zu sein, deren Handlungsverlauf bestimmt erscheint vom Ziel, das dargestellt werden soll, und lässt somit bisweilen an der Überzeugungskraft tatsächlicher Ereignisse zu wünschen übrig. Mit ihrem Mangel teilt der Roman aber auch die Stärke jeder Robinsonade: Er entkleidet den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess der Menschen der Differenziertheit und Komplexität einer modernen kapitalistischen Gesellschaft und fördert die allgemein-abstrakten Zusammenhänge einer menschlichen Gesellschaft losgelöst vom konkreten und vielschichtig bedingten Verlauf ihrer Geschichte zu Tage. Dargestellt wird nicht, was tatsächlich geschehen würde, sondern was als allgemeines und abstraktes Gesetz menschlicher Entwicklung wirkt.
Es wäre zu viel verlangt und war von Robert Merle sicher nicht beabsichtigt, dass der Leser aus der Lektüre des Romans, aus der Einsicht in den allgemeinen und ursprünglichen Zusammenhang von Sein und Denken, der Abhängigkeit des sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess der Menschen von der Produktionsweise ihres materiellen Lebens die logischen und notwendigen Schlussfolgerungen zöge. Es läge am Ende einer solchen Schlussfolgerung die Erkenntnis, dass der Anlass dieser Robinsonade, die atomare Vernichtung der Menschheit, selbst nicht das Resultat eines vermeintlich falschen Denkens oder des Zufalls, sondern einer bestimmten Form der Produktionsweise des materiellen Lebens, nämlich einer kapitalistischen Produktionsweise sei – und dass also die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise eine materielle Notwendigkeit darstellt, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Auch der Kommunist Robert Merle wird diese Erkenntnis von seinen Lesern nicht gefordert haben.
Und dennoch: Eine mögliche Bräche in die Einsicht der tatsächlichen Bedingungen unseres materiellen Lebens kann auch mit dem Roman Malevil geschlagen sein. Das ist nicht wenig, betrachtet man das allgemeine und, man möchte sagen, blinde Vertrauen, das den Mächten der Gegenwart entgegen gebracht wird, die ihre Politik im Mantel der Verteidigung westlich-christlicher Werte und unter dem Banner von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit betreiben; Mächten, die uns glauben machen wollen, die von ihnen beschworenen Werte, und nicht ihre materiellen Interessen seien die Triebkräfte ihres Handelns.
Und mag die Lektüre des Romans dem dialektischen Materialismus und dem kritischen Blick auf die Gegenwart auch nicht zum Durchbruch verhelfen, eines bleibt der Roman in jedem Fall: Eine düstere Mahnung an die Menschheit, es niemals zu einem Malevil kommen zu lassen.
Ein Atomschlag vernichtet die menschliche Zivilisation, nur wenige Menschen überleben den Untergang der bisher bekannten Welt durch Zufall und im Schutze besonderer topografischer Gegebenheiten. Zu diesen Menschen gehören der Pferdezüchter und Weinbauer Emanuel Comte und seine Freunde, die sich zum Zeitpunkt der Katastrophe mit ihm gemeinsam im Weinkeller der Burg Malevil aufhalten. Die mittelalterliche Burg, die Emanuel Comte als kulturellen Luxus erworben und zu seinem Wohnsitz gemacht hatte, wird Heimstädte der kleinen Schar Überlebenden und neue Wiege der menschlichen Spezies. Binnen weniger Stunden ändern sich die alltäglichen Aufgaben der neuen Bewohner von Malevil grundlegend: das eigene Überleben muss sicher gestellt, junge Saat auf der verbrannten Erde heraufgezogen, die in den Ställen der Burg erhalten Tiere versorgt, die Mauern der Burg wieder errichtet, nach Überlebenden gesucht und Schutz vor Plünderern organisiert werden. Denn die Bewohner von Malevil sind nicht die einzigen, die die Katastrophe überlebt haben.
Es klingt und liest sich wie ein Abenteuerroman oder eine düstere Utopie, die als Warnung an die Menschheit gerichtet ist. Beides ist richtig und doch ergäbe beides Zusammen noch keinen Roman von Robert Merle. Der Schriftsteller, der in seinem bürgerlichen Beruf Professor für Anglistik war, bezeichnete seine Bücher selbst als politisch-utopische Literatur. Als zeitweiliges Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs wird er wahrscheinlich – das kann hier nur vermutet werden – auch Anhänger einer materialistischen Weltanschauung gewesen sein, gefesselt womöglich vom Gedanken, dass menschliches Zusammenleben erforschbar und gesetzmäßig erklärbar ist. Aus dieser Perspektive erscheint der Roman Malevil tatsächlich wie eine Versuchsanordnung in einem Labor aus Gedanken, wie ein gedankliches Experiment zur Erforschung der Gesetze menschlichen Zusammenlebens, wie eine Robinsonade, die geschaffen wurde, dem Leser auf unterhaltsame Weise zu verdeutlichen: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Karl Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie)
Denn es ist auffallend, dass im Zentrum der Handlung schon bald nicht mehr die Erfahrung und Verarbeitung der schrecklichen Katastrophe stehen, sondern die Veränderungen im sozialen Zusammenleben und Denken ihrer Protagonisten. Hierarchien und Befehlsstrukturen bilden sich heraus, das geschlechtliche Verhältnis von Mann und Frau wandelt sich, die Religiosität nimmt in einem Maße zu, dass religiöse Autorität zu einem gesellschaftlichen Machtfaktor avanciert, und die überkommenen Moralvorstellungen der Menschen des 20. Jahrhunderts passen sich der materiellen Notwendigkeit an, das Überleben der eigenen Gemeinschaft sicher zu stellen. All dies vollzieht sich vor dem Hintergrund materieller Probleme, die es zu lösen gilt, im Ergebnis konkreter Erfahrungen oder gleichsam als logische und gesetzmäßige Ergebnisse der Produktionsweise des materiellen Lebens in den sich neu entwickelnden Gemeinwesen.
Wie jede Robinsonade besitzt auch der Roman Malevil den Mangel, eine gedankliche Konstruktion zu sein, deren Handlungsverlauf bestimmt erscheint vom Ziel, das dargestellt werden soll, und lässt somit bisweilen an der Überzeugungskraft tatsächlicher Ereignisse zu wünschen übrig. Mit ihrem Mangel teilt der Roman aber auch die Stärke jeder Robinsonade: Er entkleidet den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess der Menschen der Differenziertheit und Komplexität einer modernen kapitalistischen Gesellschaft und fördert die allgemein-abstrakten Zusammenhänge einer menschlichen Gesellschaft losgelöst vom konkreten und vielschichtig bedingten Verlauf ihrer Geschichte zu Tage. Dargestellt wird nicht, was tatsächlich geschehen würde, sondern was als allgemeines und abstraktes Gesetz menschlicher Entwicklung wirkt.
Es wäre zu viel verlangt und war von Robert Merle sicher nicht beabsichtigt, dass der Leser aus der Lektüre des Romans, aus der Einsicht in den allgemeinen und ursprünglichen Zusammenhang von Sein und Denken, der Abhängigkeit des sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess der Menschen von der Produktionsweise ihres materiellen Lebens die logischen und notwendigen Schlussfolgerungen zöge. Es läge am Ende einer solchen Schlussfolgerung die Erkenntnis, dass der Anlass dieser Robinsonade, die atomare Vernichtung der Menschheit, selbst nicht das Resultat eines vermeintlich falschen Denkens oder des Zufalls, sondern einer bestimmten Form der Produktionsweise des materiellen Lebens, nämlich einer kapitalistischen Produktionsweise sei – und dass also die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise eine materielle Notwendigkeit darstellt, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Auch der Kommunist Robert Merle wird diese Erkenntnis von seinen Lesern nicht gefordert haben.
Und dennoch: Eine mögliche Bräche in die Einsicht der tatsächlichen Bedingungen unseres materiellen Lebens kann auch mit dem Roman Malevil geschlagen sein. Das ist nicht wenig, betrachtet man das allgemeine und, man möchte sagen, blinde Vertrauen, das den Mächten der Gegenwart entgegen gebracht wird, die ihre Politik im Mantel der Verteidigung westlich-christlicher Werte und unter dem Banner von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit betreiben; Mächten, die uns glauben machen wollen, die von ihnen beschworenen Werte, und nicht ihre materiellen Interessen seien die Triebkräfte ihres Handelns.
Und mag die Lektüre des Romans dem dialektischen Materialismus und dem kritischen Blick auf die Gegenwart auch nicht zum Durchbruch verhelfen, eines bleibt der Roman in jedem Fall: Eine düstere Mahnung an die Menschheit, es niemals zu einem Malevil kommen zu lassen.
von Roman Stelzig
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