Montag, 26. April 2010

Sonnenstaat

auf dem blauen Schädel des Himmels blüht
die Sonne auf wie eine rote Mohnblume.
unter dieser Mohnblume sabbert die befreite Gesellschaft
Briefmarken auf E-mails.
das in diese Briefe verliebte, schüchterne Google
büffelt sie auswendig und sieht hindurch.
von einer solchen Leidenschaft ergriffen wäre der tote Gogol* bereit
seine Seele wie ein Programm auf CD zu brennen.

die Tränen der Häuser erstarren im Sonnenuntergang -
da haben sich die Puppen in den Schaufenstern entblößt.
der Mond zieht seine Bahnen wie der letzte Diktator,
und die Uhr erwürgt trotzdem weiter die Zeit wie die 

Nachbarsfrau ihren Säugling.
der Schlaf fällt auf den Sonnenstaat wie eine Schneelawine in den Alpen.
die Einwohner schlafen ein, den Tag mit der Hand zu Ende gebracht.
sie träumen
von Cowboys. die Cowboys werfen Lassos auf die Hälse der Indianer,
nehmen ihnen
die Skalps ab wie die Schminke nach einem Bühnenauftritt
und führen die Pferde zur Tränke.

von Sergej Tenjatnikow

*Gogol, Nikolai (1809 - 1852): russischer Schriftsteller ukrainischer Herkunft, der leidend unter einer Psychose das Manuskript des zweiten Teils seines Romans "Die Toten Seelen" verbrannte.

3 Kommentare:

  1. Die pessimistische Weltuntergangsstimmung dieses Gedichts rührt vor allem von dem Dekadenzmodell her, das ihm zugrunde liegt. Es wird alles immer schlechter. Der zynische Ton tut sein übriges. Doch wie kann die im Negativen ertragreiche Analyse ins Positive gewendet werden?
    Die motivische Varianz ist ganz beeindruckend: wie mühelos die verschiedensten Szenen ein von blutrotem Abendlicht durchtränktes Schlachtengemälde der postmodernen Zivilisation zeichnen. Doch auch hier die Frage: Wie gewinne ich der Bedrohnung von Googles Datenhunger einen positiven Aspekt ab? Wie gehe ich mit der Erkenntnis um, dass unsere Zivilisation im Kerne schlecht ist, dass die starken Cowboys die schwachen Indianer fertig machen und ihre plumpe Haudrauf-Technokratie in die einträchtige Natur stampfen?

    Antwort: Gabs das nicht schon immer? Schon Heraklit wusste, dass die meisten schlecht sind und nur wenige gut. Sicher, der Mann war auch kein Demokratie-Freund. Aber wir, die wir es zu sein scheinen, könnten sagen: bildet euch zur Kritikfähigkeit, auf dass euch die zynische Gegenwart nicht die grade erworbene Kritikfähigkeit wieder abnehme. Das geht nur allzu schnell, wenn man die bequeme Rolle des Konsumenten einnimmt. Wir könnten dem Bürger sagen: befähige Dich, einen qualifizierten Humanismus zu üben und produziere selbst diesen Humanismus. Lege Dein Augenmerk eben nicht auf die Maschine Google, nicht auf die technokratische Zivilisation, sondern konzentriere Dich auf den Menschen.

    Insofern bleibt leider festzuhalten: Kapituliere vor dem Zynischen Neoliberalismus unserer postmodernen Zeit - du kannst eh nichts ändern - und ergib dich romantischen Rekonstruktionen eines Ideals der Eintracht von Humanismus und Naturalismus. Es ist leider nichts Gutes am Schlechten zu finden.

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  2. Wenn ich den vorangegangenen Kommentar richtig verstehe, fehlt dem Kommentierenden in den Gedichten Sergej Tenjatnikows etwas Positives, ein „qualifizierter Humanismus“, dem man dem Bürger mitgeben könnte.
    In der Physik gilt, dass ein Körper nicht dort sein kann, wo ein anderer ist. Ähnliches gilt auch für das gesellschaftliche Bewusstsein. Bevor neues Denken entstehen kann, muss das alte Denken vernichtet werden; dann erst kann angeknüpft werden an die negative Einsicht, dass es so nicht weiter gehen kann und etwas neues her muss. So entwickelte sich die Kunst auch in der Geschichte. Bevor die Klassik ein neues Ideal vom Menschen erschaffen konnte, mussten die Mythen des Absolutismus vernichtet werden. Diese Funktion hatten zum Beispiel die Dramen William Shakespeares. Worin besteht denn im Hamlet oder Macbeth der positive Gehalt, an den man optimistisch anknüpfen könne, außer in der Einsicht darin, dass sich das höfische Leben des elisabethanischen Englands mit seinen Intrigen und seiner Dekadenz gründlich überholt hat und etwas neues her muss? Insofern ist die Einsicht, dass die Cowboys nicht die Guten sind, immer noch besser als zu viele Illusionen und immerhin ein Anfang.
    Sollte man das aber auch naturalistischere Weise tun als Sergej Tenjatnikow? Der DDR-Schriftsteller Peter Hacks hat über die 90er Jahre gesagt, es gebe nichts zu schreiben, das sich lohnt, die Zeit sei zu abgeschmackt, um Kunst in ihr zu machen. Er näherte sich mit dieser Aussage Brecht an, der schon über die US-amerikanische Gesellschaft meinte, dass man in ihr künstlerisch nichts mehr entschleiern könne, weil sie bereits vollständig entschleiert sei und unverschleiert als nackter profitsüchtiger Kapitalismus zutage trete. Kunst könne unter solchen Bedingungen nicht aufklärerisch wirken. Daran scheint sich nichts geändert zu haben, wenn man bedenkt dass der ehemalige US-amerikanische Außenminister Colin Powell öffentlich bekennt, in seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung gelogen zu haben, als er behauptete, der Irak besitze schnell einsetzbare LKWs mit chemischen Massenvernichtungswaffen, und zugibt, dass diese Behauptung nur dazu diente, den amerikanischen Einmarsch im Irak zu rechtfertigen. Wenn nur wenige Jahre später annähernd gleiche Anschuldigungen von der US-Regierung gegenüber dem Iran erhoben werden, fragt man sich doch: Was soll Kunst hier noch entschleiern? Der humanistische Aufschrei müsste stehenden Fußes folgen. Er folgt aber nicht. Die Wahrheit ist bekannt, die Lüge wird schweigend akzeptiert und hingenommen. Was soll der Künstler entschleiern: Dass Fernsehen nicht die Wahrheit sagt, dass in den Zeitungen nicht die Wahrheit zu lesen ist? Das sind Binsenweisheiten, die man an jedem Stammtisch zu hören bekommt. Eine kritische Haltung gegenüber den tatsächlichen Bedingen unseres Lebens folgt daraus aber nicht. Der Mythos von der bestehenden Gesellschaft als einer demokratischen und besten aller Zeiten ist nach wie vor ungebrochen.

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  3. Freilich ist fraglich, ob Sergej Tenjatnikow dem gesellschaftlichen Fortschritt mit seiner Lyrik nicht eher einen Bärendienst erweist: Anstatt ihn zu entschleiern, verschleiert er den Mythos, indem er ihn allegorisch und metaphorisch umschreibt. Das ist sicherlich nicht angetan, Einsichten in die gesellschaftlichen Verhältnisse zu gewinnen. Aber will Sergej Tenjatnikow das überhaupt? Ich weiß, dass der Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts ihm nicht gefallen würde. Auf jeden Fall liefe eine naturalistisch und realistischere Entlarvung der Gegenwart auch Gefahr, in Banalität abzugleiten, weil die Gegenwart eben allzu „abgeschmackt“ ist.
    Freilich, irgendwann muss auch etwas neues her, etwas positives, an das man anknüpfen kann. Aber in dieser Frage erweist sich der Kommentar nicht als Alternative zur Lyrik Tenjatnikows, sondern als ein Schritt zurück zum Mythos, zum Mythos nämlich, dass die Befähigung zum qualifizierten Humanismus aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen heraus möglich sei; dass es möglich sei, Menschen zur Mündigkeit zu erziehen. Genau diese Illusion, die Überbetonung des subjektiven Faktors in der menschlichen Geschichte, entstand aber als Reflex auf die Herausbildung genau jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die es in der Gegenwart zu entschleiern gilt. Und gerade mit dieser Illusion räumt Tenjatnikow unbewusst mit seiner pessimistischen Desillusionierung gründlich auf. Das Neue und Positive, das an diese Desillusionierung anknüpfen müsste, kann m.E. nichts anderes bedeuten als „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (Karl Marx)

    Roman

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