Wer zum ersten Mal in seinem Leben ein Buch von Hermann Hesse zur Hand nimmt und aus innerem Antrieb, nicht aus äußerem Zwang, in die Gedankenwelt jenes Schriftstellers eintaucht, wird sich fühlen wie ein Entdeckungsreisender in einer ihm völlig unbekannten, gefahrvollen und doch mystisch anziehenden, reizvollen Welt.
Verschwommen, schemenhaft nur und unfasslich offenbaren sich die Gedanken jedem unbefangenen Leser und doch scheint jeder Satz tiefe Wahrheit und Erkenntnis zu enthalten. Hermann Hesse Lesen bedeutet Offenbarung, ist die Reise des Menschen in sein Innerstes, auf den verborgenen Grund seiner Seele. Ich behaupte nicht, dass jeder Mensch für die Lektüre der Bücher Hermann Hesses geschaffen ist. Aber welcher Mensch, der einmal aus eigenem Antrieb und Interesse Berührung mit seinen Bücher hatte, wird nicht das Gefühl gehabt haben: Jedes Buch von Hermann Hesse ist ein Spiegelbild der eigenen Seele, ist ein Blick ins eigene Ich?
Woher kommt diese Wirkung und warum vermochten gerade seine Bücher, „Demian“, „Peter Camenzind“, „Narziss und Goldmund“ oder „Der Steppenwolf“, über Generationen hinweg die Gedanken, Gefühle, Hoffnungen, Träume oder Ängste so vieler junger, v. a. intellektueller Menschen auszudrücken und ihnen Gestalt zu verleihen? Ich denke, die Antwort ist, dass Hermann Hesse in erster Linie einer der ehrlichsten und wahrhaftesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Hermann Hesse erzählt in seinen Büchern von „Peter Camenzind“ bis „Das Glasperlenspiel“ die Biografie seiner Seele, die Geschichte seiner eigenen Persönlichkeit offen und vorbehaltlos; er verschweigt dem Leser, oder besser gesagt, verschont ihn mit keinem noch so unerträglichen Detail: Jedes Laster, jede Amoralität, jede Angst, jeder Zweifel, jeder Schmerz, jede Scham, jede tief empfundene menschliche Schwäche sind in dieser Biografie genauso enthalten wie alles Edle und Gute, zu dem Menschen fähig sind.
Die äußere Geschichte dieser Seele begann am 02. Juli 1877 in der schwäbischen Kleinstadt Calw. Die Mutter Hermann Hesses, Marie Hesse, geborene Gundert, war die Tochter eines Missionars und erblickte, weil dieser gerade in Indien arbeitete, im fernen Osten das Licht der Welt. Auch der Vater, Johannes Hesse, entstammte einer Missionarsfamilie. Ihre Herkunft liegt in Estland und auch der Vater wirkte einige Jahre als Missionar in Indien. Ihre Kenntnisse der verschiedenen Sprachen Indiens, fernöstlicher Philosophien und Gedanken, der Märchen und der Kultur Ostasiens brachte die Familie mit nach Deutschland. Sie waren Teil der weltoffenen und toleranten geistigen Atmosphäre, in der der junge Hermann Hesse aufwuchs, und blieben Zeit seines Lebens ein prägendes Element seines Denkens und Schaffens. 1881-1886 unterrichtete der Vater im Basler Missionarshaus deutsche Sprache und Literatur und wirkte als Herausgeber eines Missionarsmagazins. So verlebte Hermann Hesse bereits seine frühe Kindheit in dem Land, das später seine Wahlheimat werden sollte. 1886 kehrte die Familie nach Calw zurück, denn der Vater trat in die Fußstapfen seines Schwiegervaters. Er wurde Angestellter und später Leiter des Calwer Verlagsvereins. In Calw besuchte Hermann Hesse die Lateinschule und der Besuch des Gymnasiums in Göttingen 1890-91 bereitete den Schüler auf das Landexamen vor, der Voraussetzung für den Besuch einer höheren Schule. Das Examen gelang und Hermann Hesse trat 1891 dem evangelisch-theologischen Seminar in Maulbronn bei. Sein einjähriger Aufenthalt in der Klosterschule von Maulbronn sollte Hermann Hesse ebenfalls prägen. Der mittelalterliche, sakrale Ort diente ihm u. a. als Vorbild für die Beschreibung der Schauplätze seines Romans „Narzis und Goldmund“ und der Erzählung „Unterm Rad“. Einen ausgeprägten rebellischen Charakter, ein Aufbegehren der zartfühlenden, träumenden Persönlichkeit gegen schulische Disziplin und gesellschaftliche Normen, was später Gegenstand der Erzählung „Unterm Rad“ wurde, zeigte Hermann Hesse in seiner maulbronner Schulzeit allerdings noch nicht. Das Lernen machte ihm Spaß und besonderes Vergnügen bereitete ihm das Lesen der antiken griechischen und römischen Literatur. Aus den Briefen an seine Eltern spricht Abneigung aber auch Achtung gegenüber seinen Lehren und im Umgang mit seinen Mitschülern fühlte er sich wohl. Völlig überraschend kam es deshalb für Eltern, Freunde und Lehrer, als der 14-jährige 1892 der maulbronner Schule entfloh. Ziellos trieb der von seelischen Krisen und Depressionen geplagte Puppertierende drei Jahre umher; nirgendwo fand er Ruhe, nirgendwo Halt, nirgendwo einen Weg, den zu beschreiten dem zukünftigen Künstler sinnvoll erschien. Bei einem Freund der Eltern, dem Theologen Christoph Blumhardt, suchte er vergeblich Heilung; er versuchte seine seelischen Leiden durch Selbstmord zu beenden; nach einem Jahr brach er einen erneuten Besuch des Gymnasiums, diesmal in Cannstatt, ab und auch eine Ausbildung beim Turmuhrmacher Heinrich Perrot in Calw konnte der ruhelosen Seele keinen Halt geben. Erst 1895 trat Heilung ein, kehrte Ruhe und Regelmäßigkeit in das Leben des getrieben Hermann Hesses zurück. Er begann in Tübingen eine Lehre als Sortimentsgehilfe einer Buchhandlung. Der frühe Abbruch der Schule hatte dem jungen Mann den Weg zum Studium an einer Universität unmöglich gemacht. Während viele seiner Altersgenossen die Vorlesungsräume der tübinger Universität füllten, sich in Cafés und Gasthäusern zu geistreichen Gesprächen trafen und dem Studentenleben frönten, arbeitete Hermann Hesse tagsüber in der Buchhandlung „Heckenhauer“. In den Abendstunden, der wenigen Freizeit, die ihm zur Verfügung stand, holte der junge Mann nach, was ihm in den Jahren der Krisen- und Depressionszeit verloren gegangen war. Mehr noch: Er holte nicht nur seinen Bildungsrückstand auf, sondern legte in seinen abendlichen privaten Studien den geistigen Grundstein für sein Lebenswerk, das ihn zukünftig weit über seine Altersgenossen hinaus ragen lassen sollte. Hermann Hesse las und studierte Poesie, Literatur, Philosophie, Geschichte, Naturwissenschaften und eignete sich einen weitreichenden und umfangeichen Wissensschatz an, aus dem er Zeit seines Lebens zu schöpfen vermochte. Besonders Goethe faszinierte den jungen Mann, aber auch die Romantik, Mörike oder Novalis, interessierte ihn genauso wie die klassische antike Literatur oder die altorientalische und fernöstliche Mythenwelt. Für einen 18 bis 21-jährigen jungen Mann war das Leben, das Hermann Hesse in Tübingen führte, einsam und zurückgezogen, fast eigenprödlerisch – aber es war ein ergiebiges Leben. Hermann Hesse studierte nicht nur, er versuchte sich auch selbst im Schreiben von Gedichten und Prosa, verfasste kleinere literarische Aufsätze und Rezensionen. 1898 veröffentlichte er seinen ersten eigenen Gedichtband mit dem Titel „Romantische Lieder“ und 1899 erschien das Buch „Eine Stunde hinter Mitternacht“, eine Sammlung kurzer Prosastücke. Ganz ohne Kontakte zu Gleichaltrigen und v. a. Gleichgesinnten verbrachte Hermann Hesse seine tübinger Lehr- und Studienjahre allerdings nicht. In Otto Erich Faber, Ludwig Finckh, Carlo Hammelehle und Oskar Rupp fand er Freunde und mit ihnen schloss er sich zum literarischen Freundeskreis „petit cénacle“ zusammen. Nach Beendigung seiner Lehre zog Hermann Hesse 1899 erneut nach Basel, arbeitete als Sortimentsgehilfe in der Buchhandlung „Reich“ und später im Antiquariat „Wattenwyl“. In Basel entwickelte sich der Buchhändlerlehrling Hermann Hesse, der in seiner Freizeit eifrig las, studierte und gelegentlich eigene Gedichte, Prosastücke oder literarische Aufsätze verfasste, vollends zum Schriftsteller.
Bereits ab 1900 erschienen regelmäßig von Hermann Hesse verfasste Buchbesprechungen in deutschen und schweizerischen Zeitungen. Auch wenn Hermann Hesse in erster Linie und zu Recht als Autor von „Das Glasperlenspiels“ oder „Der Steppenwolf“ Berühmtheit erlangte, steht seine Kritikertätigkeit seinem literarischen Schaffen quantitativ in nichts nach. Nahezu dreitausend Buchbesprechungen hat Hermann Hesse bis wenige Monate vor seinem Tod geschrieben. Freilich wird der noch Angestellte einer Basler Buchhandlung zunächst für den gelegentlichen und nebenberuflichen Broterwerb geschrieben haben. Grundzüge seiner Kritikertätigkeit lassen sich jedoch von seinen ersten Veröffentlichungen an feststellen und nach und nach bildete sich der Schriftsteller Hermann Hesse sein eigenes Weltbild, seine eigene Vorstellung von der Rolle und den Aufgaben des Schriftstellers und Kritikers in der Gesellschaft. Hermann Hesse wollte mit seiner Arbeit in erster Linie erziehen, den Menschen erzählen vom völkerverbindenden, Toleranz lehrenden Charakter der Kunst aller Menschen und aller Epochen. In einer Rezension aus dem Jahre 1915 schrieb er: „Die Seele des Menschen in ihrer Heiligkeit, in ihrer Fähigkeit zu lieben, in ihrer Kraft zu leiden, in ihrer Sehnsucht nach Erlösung, die blickt uns aus jedem Gedanken, aus jeder Tat der Liebe an, bei Plato und bei Tolstoi, bei Buddha und bei Augustinus, bei Goethe und in Tausendundeiner Nacht. Daraus soll niemand schließen, Christentum und Taoismus, platonische Philosophie und Buddhismus seien nun zu vereinigen, oder es würde aus einem Zusammengießen aller durch Zeiten, Rassen, Klima, Geschichte getrennten Gedankenwelt sich eine Idealphilosophie ergeben. Der Christ sei Christ, der Chinese sei Chinese, und jeder wehre sich für seine Art zu sein und zu denken. Die Erkenntnis, dass wir alle nur getrennte Teile des ewig Einen sind, sie mach nicht einen Weg, nicht einen Umweg, nicht ein einziges Tun und Leiden auf der Welt entbehrlich. Die Erkenntnis meiner Determiniertheit macht mich ja auch nicht frei! Wohl aber macht sie mich bescheiden, macht mich duldsam, macht mich gütig; denn sie nötigt mich, die Determiniertheit jedes anderen Wesens zu ahnen, zu achten und gelten zu lassen. Ebenso dient die Erkenntnis von der über alle Erdteile weg geltenden gleichen Heiligkeit und gleichen Bestimmung der Menschenseele einem Geist, den wir für edler und weiter ansehen müssen als jedes Eingeschworensein auf eine Lehre, einem Geist der Ehrfurcht und der Liebe.“ So wurde aus dem Rezensieren zum Broterwerb mit den Jahren ein Rezensieren als Mittel der Erziehung der Menschen. Diese Zielstellung bestimmte den besonderen Charakter seiner Buchbesprechungen und macht sie bis heute zu einer reichhaltigen Fundgrube für alle Kultur- und Kunstliebhaber und zu einem Zeugnis tiefen humanistischen Denkens.
1904 gelang Hermann Hesse schließlich der literarische Durchbruch mit dem Roman „Peter Camenzind“. Das Buch erzählt im Grunde nicht mehr als die Lebensgeschichte des Schriftstellers Peter Camenzind, der aus seinem heimatlichen Dorf auszieht, um die Welt kennen zu lernen, Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Italien bereist, in Intellektuellen- und Künstlerkreisen verkehrt, Nächte in Kneipen und Gasthäusern durchzecht, Freunde gewinnt, Liebe und Enttäuschungen erlebt und der am Ende zurückkehrt in die beschauliche, geordnete Idylle seiner ländlichen Heimat. Und doch klingen bereits in „Peter Camenzind“ die Themen an, die immer wieder Gegenstand der Bücher Hermann Hesses sind. Peter Camenzind ist ein träumender Idealist, der dem Guten und Edlen entgegenstrebt und der doch nicht unberührt bleibt von der Unvollkommenheit der Welt, in der er lebt, der sich im Leben gleichermaßen bewährt und schuldig macht. Das Gegeneinander von vollkommenem Ideal und einer fehlerhaften Wirklichkeit klingt in „Peter Camenzind“ bereits an, wird jedoch aufgelöst durch die Anerkennung eines Lebens, das sowohl Gutes als auch Schlechtes beinhaltete. Zuerst muss Peter Camenzind zu Hendrik Haller werden und als Steppenwolf die Widersprüchlichkeit seiner eigenen Existenz unter Höllenqualen bis zur Unerträglichkeit durchleiden, bevor Hermann Hesse mit „Das Glasperlenspiel“ der unvollendeten Wirklichkeit eine absolute Utopie entgegenstellen wird.
von Roman Stelzig
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