Montag, 21. Dezember 2009

Kurze Biografie einer Seele - Gedanken über Hermann Hesse (Teil 3/3)

Aber Hermann Hesse war nicht Siddharta und die Einsichten des Siddharta brachten der Seele des Schriftstellers Hermann Hesse nicht die stoische Ruhe und heitere Gelassenheit, jeden Augenblick und jedes Ding auf Erden zu lieben und anzuerkennen als Teil eines vollkommenen Ganzen. Fünf Jahre nach dem Erscheinen von „Siddharta“ feierte Hermann Hesse 1927 im Kreise weniger Schweizer Freunde seinen fünfzigsten Geburtstag. Im gleichen Jahr erfolgte die Scheidung von seiner zweiten Frau, Ruth Wegner; sie hatte den Lebensweg des Schriftstellers seit 1924, seit der Trennung von der geisteskranken Maria Bernoulli begleitet. Die nun gefeierten 50 Jahre waren für Hermann Hesse auch ein Grund, Bilanz zu ziehen über Erreichtes und über Gewolltes. Aber, wenn es etwas gab, was Hermann Hesse zu einem einmaligen alle anderen Kollegen überragenden Schriftsteller machte, dann war es seine tiefe vollkommene Ehrlichkeit den Menschen und sich selbst gegenüber. Deshalb konnte eine Bilanz des eigenen Lebens aus der Feder Hermann Hesses keine Laudatio der eigenen Person, des aus eigener Kraft erreichten beinhalten, konnte sie keine Ruhe und Gelassenheit verbreiten; mit Notwendigkeit musste eine solche Bilanz herab führen in die unbekannten Tiefen der menschlichen Seele, aus deren tiefstem Grund den Schriftsteller nichts anderes anblickte als die grausame, blutrünstige, Schrecken verbreitende Bestie: „Der Steppenwolf“.

Protagonist des Buches ist Harry Haller, ein gebildeter und überaus begabter Mann, der wenige Jahre vor seinem fünfzigsten Geburtstag eine tiefe seelische, geistige Krise durchleidet. Als junger Mann hatte er von Idealen und Glauben getrieben das Leben eines geistig arbeitenden Menschen begonnen, sich eine hohe Bildung angeeignet und war den Gesetzen von Moral und Tugend gefolgt. Sehr bald jedoch geriet er mit seiner moralischen Lebensführung in Widerspruch zu seiner unvollkommen Umwelt; einer Welt, in der geistige Werte nicht nach ihrem ideellen Gehalt, sondern nach ihrer materiellen Verwertbarkeit gewogen werden, in der der äußerer Schein mehr gilt als das tatsächlich Sein, Worte mehr als Taten, in der Moral nur als äußere Hülle dient für eine Wirklichkeit, die in Wahrheit von Laster, Sünde und Übeln bestimmt wird. Harry Haller beginnt sich abzulösen von seiner Umwelt, führt das Leben eines individualistischen Einzelgängers, der mit zynischem Humor die Unvollkommenheit seiner Umwelt kommentiert und sich selbst als den einzigen wahrhaftigen Verfechter wirklicher Tugenden und Ideale betrachtet. Sehr bald aber bringt ihn auch diese Lebenshaltung in Widersprüche, diesmal mit sich selbst. Vor der spießigen Idylle kleinbürgerlicher Wohnungen stellt er wehmütig fest, dass der Weg zurück in die Gemeinschaft der Menschen ihm, dem Einzelgänger, für immer verwehrt bleibt, weil er die Scheinhaftigkeit ihrer Welt und ihrer Werte erkannt und einen Weg beschritten hat, der ihn von seinen Mitmenschen trennt. Von den Menschen unverstanden, ihrer Welt nicht glauben könnend bleibt er dazu verdammt seinen Weg einsam zu beschreiten, bis er entsetzt feststellen muss, dass auch er nicht den richtigen Weg gefunden hat, dass auch sein Charakter Züge aufweist, die seinen Idealen widersprechen und sein Selbstbild in Frage stellen. Während er am Tage als Mensch der Tugend folgt und nach vollkommenen geistigen Werten strebt, überfällt ihn in der Nacht die triebhafte Lust nach sinnlichen Genüssen und als Steppenwolf zieht er durch die dunklen Straße und Gassen, von Gasthaus zu Gasthaus. Er, Harry Haller ist Wolf und Mensch in einer Person, eine gespaltene Persönlichkeit, die sich einerseits zum wahrhaftigen, absoluten Ideal bekennt, sich andererseits ihrer natürlichen, menschlichen Triebe nicht zu entsagen vermag und die sich deshalb unaufhörlich in Frage stellt. Die Begegnung mit Hermine, einer androgynen jungen und verständnisvollen Prostituierten, öffnet dem alternden Mann, der die Blüte seiner Jugend lang überschritten hat, den Weg in die Welt der sinnlichen Lust. Leidenschaftliche Tänze mit Hermine und die sexuelle Vereinigung mit einer ihrer Kolleginnen, führen dem Idealisten melancholisch, fast schmerzlich vor Augen, wie hoch der Preis ist, den er für sein Bekenntnis zum geistigen Ideal bezahlen musste. Beim erneuten Zusammentreffen zwischen Harry Haller und Hermine während eines magischen Theaters am Rande eines Maskenballs endet das Buch mit der traumhaften, skurrilen Begegnung Hallers mit Mozart, der scheinbar in geisteskranker Heiterkeit alles Bestehende in einer sinnlosen Orgie von Gewalt vernichtet und zerschlägt. Weil der Eintritt in die Welt des magischen Theaters mit der Einnahme von Drogen beginnt, wurde der Schluss des Romans oft, v. a. von der amerikanischen Hippie- und Flowerpowerbewegung der 70er Jahre, als nihilistische Absage an alle Werte und Ideale gedeutet, als Freifahrtsschein und Begründung für eine ideen- und wertfreie Lebenskultur, die in purer Sinneslust und blindem Drogenkonsum ihre Erfüllung findet. Eine solche Interpretation des Buches „Der Steppenwolfes“ liegt weit entfernt vom tatsächlichen Anliegen Hermann Hesses. Was der Schriftsteller mit dem magischen Theater heraufbeschwört, ist nichts anderes als die Unsterblichkeit des geistigen Genies, dessen Vertreter hier Mozart ist. Hermann Hesse verabschiedet sich in „Der Steppenwolf“ nicht vom Idealismus, er begründet ihn und stellt einer widersprüchlichen, unvollkommenen, lasterhafte und schlechten Wirklichkeit seinen tiefen Glauben an das absolute Ideal entgegen. Die Unsterblichkeit seiner Ideen, die geistige Verbundenheit mit den Genies vergangener und zukünftiger Epochen ist der Lohn, den Harry Haller im Jenseits erhält für den Preis einer gespaltenen, qualvollen Lebensführung, des steten, zermürbenden Kampfes des Menschen um Selbstbehauptung gegen den Wolf, der in ihm schlummert. Harry Haller lebt in dem Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einer idealen und moralisch integeren Lebensführung einerseits und der Unmöglichkeit, diesem Ideal als Mensch mit natürlichen Bedürfnissen und als gesellschaftliches Wesen in einer unvollkommenen Wirklichkeit gerecht zu werden. Mit der Idee der Unsterblichkeit, deren Symbol das Genie Mozart ist, löst Hermann Hesse den Widerspruch auf seine klassische idealistische Weise.
Man muss kein Idealist sein und Hermann Hesses Schlussfolgerung nicht folgen, um den wirklichen Kern des Romans „Der Steppenwolf“ anzuerkennen. Die Gesellschaft, in der Harry Haller lebt, ist eine Waren produzierende Gesellschaft, in der alles auf dem Kopf steht und die bis in die kleinste Faser ihrer Existenz zutiefst gespalten ist. Produzierten die Menschen ursprünglich, um die Mittel für ihre Bedürfnisbefriedigung zu gewinnen, kehrt die Warenproduktion dieses Verhältnis auf den Kopf: Produktion primär für den Austausch, nur Sekundär für die Konsumtion. Der ursprüngliche Zweck der Produktion wird ihr Nebenprodukt, das Mittel – der Austausch von Waren – ihr eigentlicher Zweck. Realisieren kann der Warenverkäufer – entweder als Warenproduzent oder Verkäufer seiner Arbeitskraft – den Austausch nur in Konkurrenz zu anderen Warenverkäufern, d.h. individuell. Weil seine Ware, um ausgetauscht zu werden, aber die Bedürfnisse anderer Menschen befriedigen soll, muss seine Arbeit gleichzeitig gesellschaftliche Arbeit sein. Der Mensch einer Waren produzierenden Gesellschaft ist deshalb in sich immer gespalten: Als gesellschaftliches Wesen braucht er die Gesellschaft und seine Mitmenschen, um existieren zu können; als Warenverkäufer steht er in ständiger Konkurrenz zu seinen Mitmenschen. Diese Widersprüchlichkeit drückt sich in der gespaltenen Persönlichkeit Harry Hallers aus. Die Sehnsucht nach menschlicher Gemeinschaft, der Wunsch nach Liebe und Zärtlichkeit, seine natürlichen Bedürfnisse, Triebe und Anlagen stehen in Widerspruch zum Zwang, sich als Individuum in Konkurrenz zu andern Menschen zu behaupten, und werden deshalb als sündhaft, bekämpfenswert, unmoralisch und einer idealen Lebensweise widersprechend wahrgenommen. Die Einsicht des individuellen Idealisten, dennoch nicht entgegen seiner natürlichen Anlagen leben zu können, stürzt die gespaltene Persönlichkeit in tiefe Depressionen.
Nicht anders verhält es dich mit den Werten von Kultur und Bildung. Es ist kein Zufall, dass man sich bei den nächtlichen Streifzügen Harry Hallers, bei seiner sehnsüchtigen Rückschau auf eine geordneter, gutbürgerliche Lebensweise und seiner bitteren Einsicht, dass Werte und Inhalte humanistischen Denkens in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unverwirklicht bleiben, erinnert fühlt an – Faust. Alles Studium der verschiedenen Wissenschaften, selbst der Theologie, hatte auch diesen nicht zur Antwort auf die Frage geführt, was die Welt im innersten zusammenhält. Aber Faust befand sich erst am Anfang seiner Reise, Harry Haller befindet sich an ihrem Ende. Der Goethesche Faust war der künstlerische Ausdruck einer bürgerlichen Gesellschaft, die noch im Entstehen begriffen war und danach strebte, die alte mittelalterlich, feudale Ordnung abzulösen und zur wirtschaftlichen und politischen Herrschaft aufzusteigen. Ihr Symbol waren die Schiffe auf einem Gemälde Caspar David Friedrichs, die sogar in der Ruhe der Nacht betriebsam ausliefen, den Hafen verließen, um ihren Geschäften und Handelstätigkeiten nachzugehen. Der ständige Entwicklung neuer Produktionsweisen und Produktionstechniken war und ist Existenzbedingung der bürgerlichen Gesellschaft; die Fortführung der Wissenschaften, die unaufhaltsame Entdeckung der Welt und der Natur war ihr Schlachtruf und ihre stärkste Waffe. Der tätige Mensch stand im Mittelpunkt ihres Denkens, dessen Prototyp kein andere als Faust gewesen ist, der selbst den Bund mit dem Teufel nicht scheute, allen Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen und der für diesen Frevel schließlich rehabilitiert wurde, weil er unaufhaltsam seinem Ziele entgegen Schritt, dem Augeblicke niemals entgegnend: „Verweile doch, du bist so schön.“ Aber die bürgerliche Gesellschaft erfüllte nicht, was sie versprach: An die Stelle politischer Gleichheit setzte sie die ökonomische Ungerechtigkeit, die massenhafte Verelendung der Arbeiter in den Städten; anstatt Kultur und Bildung zu ehren, unterwarf sie alle menschlichen, humanistischen Ideale und Werte ihrem Diktat der ökonomischen Verwertbarkeit, als Kunst gilt, was verkäuflich, was Nachfrage bewirkt, was massenhaft Zuspruch findet; anstelle des Reiches der Freiheit setzte sie die grausame ökonomische Konkurrenz aller gegen aller, die sich mit dem Ersten Weltkrieg zur industriellen Barbarei steigerte und Menschen millionenfach abschlachtete. So vergaß und verriet sie schließlich ihren Faust, der alleingelassen als Harry Haller die Straßen durchstreifte und seine Ideale vergeblich suchte.
Hermann Hesse rettete und erlöste seinen Harry Haller, indem er ihn schließlich, dem Faust gleich, in das himmlische Reich der Unsterblichkeit erhob – und der Schriftsteller rettete damit seine eigene Seele.
So sehr „Der Steppenwolf“ den Leser hinab führt in die Zerrissenheit der eigenen Seele, so sehr er den gesunden Geist krank zu machen scheint, zu infizieren mit dem Gift Unheil und Unruhe bringender Gedanken – einige Menschen fielen dieser Wirkung zum Opfer. Der Briefwechsel Hermann Hesses kennt Beispiele heftiger Anklagen von Eltern, deren Kinder nach der Lektüre des Romans den Freitod suchten – „Der Steppenwolf“ ist, wenn man die Sorgfalt aufbringt, ihn „wirklich zu lesen und zu verstehen […] nicht die Geschichte eines Unterganges […], sondern die einer Krise und Heilung […]“. Und tatsächlich erscheint das Buch im Gesamtwerk Hermann Hesses wie eine Zäsur. Alle vorangegangenen Bücher, „Peter Camenzind“, „Unterm Rad“, „Demian“, „Siddharta“ näherten sich auf unterschiedliche Weise den großen Themen, die Hermann Hesse Zeit seines Lebens künstlerisch verarbeitete: Die Gegenüberstellung von fehlerhafter Wirklichkeit und vollkommenem Ideal und der Platz der individuellen Persönlichkeit darin. In „Der Steppenwolf“ kulminieren diesen Themenstränge zur völligen Zerrissenheit des einzelnen Menschen und über einen qualvollen Weg der Selbsterkenntnis löst Hermann Hesse den Widerspruch, indem er an die Stelle des Suchens und Fragens Antworten stellte. Hermann Hesse überwand mit „Der Steppenwolf“ seine eigene Zerrissenheit und kam zu einer Weltanschauung – und aus den Tiefen seiner Seele leuchtete bereits von Ferne „Das Glasperlenspiel“ herauf.
Zuvor ließ Hermann Hesse dem Roman „Der Steppenwolf“ aber 1930 „Narziss und Goldmund“ folgen, fast so als wäre es ihm wie seinem Goldmund gegangen, der, nachdem er ein Kunstwerk beendet hatte, „in die nackte leere Werkstatt zurück [kehrte], betrübt über alles das, was in meinem Werk mir nicht gelungen ist und was ihr andern gar nicht sehen könnt.“
Äußerlich handelt die Geschichte von Narziss und Goldmund von der Freundschaft zwischen dem philosophisch, rationell veranlagten Narziss und dem begabten, künstlerisch fühlenden Goldmund. Beide lernen einander als junge Mitglieder der Klosterschule Mariabronn kennen und auf freundschaftliche Weise lieben. Nicht zuletzt auf Betreiben Narziss’, der die tiefe Veranlagung zu sinnlich gefühlvoller Wahrnehmung und Abneigung gegen abstrakt philosophisches Denken seines Freundes früh erkennt, verlässt Goldmund die Klosterschule und begibt sich auf Wanderschaft. Auf seiner Reise lernt er die Liebe kennen, körperliche Lust, Schuld, Krieg, Pest und Tod; er saugt Eindrücke und Gefühle in sich auf. Nach vielen Jahren führt ihn sein Weg zurück in die Klosterschule Mariabronn, zurück in die Begleitung seines Freundes Narziss. Hier nun schließt sich der Kreis des Leben des alternden Goldmund, hier erfüllt sich der Sinn seines ganzen Lebens: Er schafft Kunstwerke. Im zweiten Teil des Buches offenbart sich vielleicht am besten die tiefe Dialektik, die dem Denken Hermann Hesses innewohnte. Die Kunstwerke, die Goldmund in Mariabronn schafft, bestechen durch ihre besondere Lebendigkeit. Sie sind keine hölzernen Figuren, sondern scheinbar lebendige Wesen, in deren Gesichtszügen, Mimiken und Gesten der Betrachter tiefe Gefühle entdeckt, Lieben, Hoffnung, Schmerzen oder Enttäuschungen. Goldmund schöpft bei seiner Arbeit aus seinem reichhaltigen, erfahrungsreichen Leben. Die Gesichtszüge jeder Frau, der er das Herz gebrochen hat, alles Leiden und alles Elend, das ihm auf seinen Wanderungen begegnet ist, verarbeitet er in seinen Figuren und aus dem Schmerz der den gekreuzigten Sohn beweinenden Mutter liest und fühlt der Betrachter das tiefe Leiden des ganzen Menschheitsgeschlechtes einer Epoche. Mittels des handwerklichen Könnens, das er sich in verschiedenen Lehren angeeignet hat, und durch die Verarbeitung des selbst Erlebten schafft Goldmund wirkliche, ewige Kunstwerke. Erst die Erfahrungen seines Lebens, die nackte Berührung mit der wirklichen Welt, die eigene Schuld und Lasterhaftigkeit befähigen Goldmund zu wahrhaftem Künstlertum – aber erst das geschaffene Kunstwerk gibt diesem Leben Sinn und Inhalt, verschafft ihm Legitimation. So bedingen die Berührung mit der unvollkommene Wirklichkeit und das Streben nach wahrhafter, absoluter Kunst einander, sind beide untrennbar im Künstler vereint. Goldmund ist ein Waisenkind, er kennt seine Mutter nicht und wurde von seinem Onkel im Kloster Mariabronn abgegeben. Zeit seines Lebens verfolgt ihn die Erinnerung und der Gedanke an seine Mutter. Immer wieder begegnet sie ihm im Traum und stets sucht er danach, ihr Abbild in einem Kunstwerk zu formen. Erst kurz vor seinem Tod erscheint ihm das Bild seiner Mutter vollständig, er glaubt es zu erkennen, es fassen und formen zu können, bringt aber nicht mehr die körperliche Kraft dazu auf. Das absolute Kunstwerk, die absolute, vollendete Idee der Kunst bleibt unerreichbares Ziel seines Künstlerlebens. Unverkennbar bedient Hermann Hesse sich in „Narziss und Goldmund“ aristotelischer und platonischer Philosophie. „Es ist ein philosophischer Begriff“, erklärt Narziss dem Freunde, „ich kann es nicht anders ausdrücken. Für uns Schüler des Aristoteles und des heiligen Thomas ist der höchste aller Begriffe: das vollkommene Sein. Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist ganz und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich, wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt sich verwirklichen.“ Im Bild der Mutter verkörpert sich für Goldmund das vollkommene Sein, das vollkommene Kunstwerk. Dies zu gestalten vermag der Künstler nicht. Und so besteht sein Leben daraus, ihm nachzueifern, dem vollkommenen Kunstwerk materielle Gestalt zu verleihen. Bedienen kann er sich dabei aber nur der Gegenstände und Erscheinungen der materiellen, unvollkommenen Welt. Der Künstler bildet so das Bindeglied zwischen unvollkommener Wirklichkeit, deren Erscheinungen er sich bedient, und vollkommenem Sein, das zu gestalten er in seinem Kunstwerk versucht. Zum Verständnis der Gedankenwelt Hermann Hesses darf keiner der beiden Gegenpole außer Acht gelassen werden. Hermann Hesse ist zu wahrhaftig und zu ehrlich, um der Welt eine platte, undialektische Moral entgegenzuhalten und doch zu sehr Idealist, um dem Glauben an absolute und vollkommene Ideale abzuschwören. Goldmund ist kein Gutmensch. Er hat sich schuldig gemacht an den Menschen, er ist selbst voller Laster. Das ist notwendig, ihn zum Künstler zu befähigen. Aber erst der Schritt von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, zum geschaffenen Kunstwerk gibt seinem Leben Sinn und Inhalt.
Die Geschichte der Seele des Schriftstellers erreichte nun den Zeitpunkt ihrer Vollendung, des eigenen Schrittes von der Potenz zur Tat. 1931-1943 arbeitete Hermann Hesse an „Das Glasperlenspiel“, seinem umfassendsten und bedeutendsten Werk. Äußerlich beschreibt dieses zweibändige Buch die Lebensgeschichte des „Magister ludi“ Joseph Knecht; seinem Wesen und Inhalt nach ist es der Versuch einer Utopie, die künstlerische Gestaltung einer vollkommenen Gesellschaft, in der Kunst und Wissenschaft zur einer Einheit verschmelzen und aus reinem Selbstzweck betrieben werden, ohne materiellen Gewinn und Absicht. Das fiktive und in ferner Zukunft liegende Kastalien ist der Name für einen geistigen Orden, eine abgeschlossene Gelehrtengemeinschaft. Beziehungen und Verbindungen zur anderen, wirklichen Welt bestehen in der Versorgung des Ordens mit Lebensmitteln und anderen Gütern des Bedarf; ansonsten führen die Mitglieder des Ordens ein abgeschiedenes Leben im Kreise ihrer Gemeinschaft. Aus den weltlichen Schulen wählen sich die Ordensmitglieder besonders begabte und talentierte Schüler und bilden sie aus, damit diese einst selbst Mitglieder der Ordensgemeinschaft werden. Im spielen des Glasperlenspiels drückt sich die Idee aus, die hinter der Ordensgemeinschaft Kastaliens steht: Die völlige Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft; Anwendung logischer Gesetze oder mathematischer Algorithmen in Verbindung mit spielerischen Melodien. Hermann Hesse beschreibt das Glasperlenspiel bewusst abstrakt und verschwommen, kaum konkret und fasslich. Das Glasperlenspiel lässt sich letztlich nicht in Worten ausdrücken, weil es eben schon nicht mehr Teil dieser Welt ist. Letztlich ist das Glasperlenspiel die Verkörperung des vollkommenen Seins, Kastalien sein Bindungsglied zur wirklichen, unvollkommenen Welt. Vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland, nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und der Krisen der Weimarer Republik schuf Hermann Hesse mit „Das Glasperlenspiel“ die reifste Frucht seines Lebens. Der Schriftsteller Hermann Hesse erreichte damit das, was er seinem selbst geschaffenen Harry Haller in „Der Steppenwolf“ versprochen hatte: Die Unsterblichkeit – zumindest in kunsthistorischer Hinsicht.

Nach Beendigung und Veröffentlichung des Romans „Das Glasperlenspiel“ verfasste Hermann Hesse kein umfangreicheres Werk mehr. Während des Nationalsozialismus nutzte er seine besondere Weise des Rezensieren, um auf Bücher aufmerksam zu machen, die dem in Deutschland herrschenden Geist entgegenstanden, Bücher von Juden, Katholiken und Bekennern anderer Glaubensrichtungen. Die Villa Casa Hesse, in der er lebte und arbeitete, war Zufluchtsstätte zahlreicher Exilschriftsteller aus Deutschland, u.a. Bertolt Brechts oder Thomas Manns. Nach 1945 wurde Hermann Hesse mit Ehrentitel und Auszeichnungen dekoriert. Im September 1945 erhielt er den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt, im November 1946 den Nobelpreis für Literatur, 1947 die Ehrendoktorwürde der Universität Bern, 1950 den Wilhelm-Raabe-Preis der Universität Braunschweig, 1955 den Orden „Pour le Mérite“ und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In der Hauptsache widmete sich Hermann Hesse in den letzten 20 Jahren seines Lebens der Beantwortung von Briefen, die ihm aus allen Teilen der Welt von verschiedenen Menschen zugesandt worden, Menschen, die seine Bücher gelesen hatten und die den Schriftsteller – vielleicht den einzigen Menschen, von dem sie sich wirklich verstanden fühlten – um Rat und Hilfe baten. Getreu seiner Auffassung vom Individuum, vom Wert jeder einzelnen, verwundbaren Seele nahm Hermann Hesse diese Aufgabe sehr ernst und beantwortete die meisten der Briefe persönlich. Die dabei entstandene und 1951 zum ersten Mal veröffentliche Briefsammlung Hermann Hesses stellt neben seinen Werken, Aufsätzen und Rezensionen eine weitere Quelle zum Verständnis der Gedanken- und Ideenwelt Hermann Hesses dar. Am Morgen des 9. August 1962 verstarb Hermann Hesse im Alter von 85 Jahren infolge einer Gehirnblutung im Schlaf. Er litt, ohne es zu wissen, bereits seit mehreren Jahren an Leukämie.

von Roman Stelzig

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